Anastasija 06 - Widrige Umstände
des ursprünglich geplanten kurzen Interviews einen längeren Beitrag liefern, eine Art Schwerpunktartikel. Um Sie nicht unnötig zu belästigen, habe ich Ihre Dissertation in der Leninbibliothek gelesen. So brauchen Sie mir nicht alle Nuancen und Details zu erklären. Wir können uns darauf beschränken, den Aufbau des Interviews zu besprechen und die Fragen abzustimmen, die ich Ihnen stellen möchte. Die Antworten schreibe ich dann selbst, gestützt auf den Text Ihrer Dissertation. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden?«
»Ich bin geschmeichelt, dass jemand meine Arbeit gelesen hat, noch dazu Sie. Ich hätte nicht gedacht, dass sich irgendjemand dafür interessieren würde.«
»Seien Sie nicht so bescheiden, Alexander Jewgenjewitsch.« Die Lebedewa lächelte bezaubernd. »Sie wissen sehr gut, dass die Bekämpfung der Korruption ein hochaktuelles Thema ist. Und erst am Mittwoch haben Sie öffentlich erklärt, dass Sie Ihr Konzept verteidigen würden. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden?«
»Durchaus, wenn es Ihnen so lieber ist«, antwortete Pawlow ein wenig kühl.
»Und Ihnen?« Die schokoladenbraunen Augen funkelten, die vollen Lippen öffneten sich, als wollten sie Pawlow die richtige Antwort vorsagen. Und er reagierte.
»Foppen Sie mich nicht, Larissa.« Er lächelte gezwungen. »Sie sehen doch, ich bin betört von Ihnen. Ich bin mit jedem Vorschlag einverstanden, wenn er Ihnen entgegenkommt. Aber darf ich Sie dafür zum Abendessen einladen?«
»Sie dürfen. Wenn wir uns also einig sind, fangen wir an.«
Eine Weile erörterten sie sachlich die Fragen, die Larissa ohne Pawlows Hilfe beantworten wollte.
»Ich möchte gern noch einige Details klären. Sie verweisen auf eine von Amerikanern Ende der Siebzigerjahre durchgeführte Befragung von Sowjetbürgern. Was war das für eine Befragung, wie wurden die Befragten ausgewählt? Das möchte ich unbedingt in meinem Artikel erwähnen.«
»Halten Sie das für nötig?«, fragte Pawlow zweifelnd. »Ich finde, das ist nicht sonderlich interessant. Darauf sollten wir verzichten.«
»Gut«, fügte sich die Journalistin. »Sie kritisieren die Arbeit von Susan Royce-Eckerman, die ein mathematisches Modell entwickelt, nach dem sich bestimmen lässt, mit welcher Wahrscheinlichkeit Beamte in dieser oder jener hierarchischen Struktur bestechlich werden. Was missbilligen Sie an diesem Modell, und was unterscheidet Ihr Konzept davon?«
»Nicht doch, Larissa, wollen Sie Ihre Leser wirklich mit solchen Details belästigen? Was sollen sie mit Mathematik? Wenn sie das lesen, legen sie den Artikel doch gelangweilt beiseite. Sie sollten das Material nicht verderben«, redete Pawlow auf sie ein.
»Wie Sie meinen. Es ist Ihr Interview.«
Larissa schien keine Spur gekränkt.
»Sie schreiben, Sie stützen sich auf die klassische Definition der Korruption von Nag. Haben Sie die englische Formulierung selbst übersetzt oder eine bereits veröffentlichte russische Übersetzung benutzt?«
»Ich habe diese Definition irgendwo gelesen. Wo genau, daran erinnere mich im Augenblick nicht mehr. Haben Sie noch viele Fragen?«
»Ja«, antwortete die Lebedewa ernsthaft. »Aber ich will Sie nicht überstrapazieren, sonst lassen Sie mich zur Strafe ohne Abendessen. Und ich möchte nicht gern hungrig bleiben.«
Als der Kellner den Kaffee brachte, sah Larissa zur Uhr.
»Ich habe genau dreißig Minuten zur Verfügung.«
»Und wenn die dreißig Minuten um sind? Dann schlägt die Uhr, und aus der Prinzessin wird Aschenputtel?«, scherzte Pawlow.
Larissa hob die Brauen, eine leichtes Lächeln kräuselte ihre Lippen, doch ihre Augen lächelten nicht. Sie waren ernst und sonderbar reglos. Wie eine Falle im Wald, dachte Pawlow. Die in ihrem Versteck reglos auf Beute wartet. Ein Teufelsweib, gefährlich.
»In einer halben Stunde holt mein Mann mich mit dem Auto ab. Sie glauben doch nicht, dass ich am Abend allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre?«
»Ich hätte Sie nach Hause gebracht. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen.«
»Zu Fuß? Oder per Taxi?« Larissa lachte leise und heiser. »Machen Sie es nicht unnötig kompliziert, Alexander Jewgenjewitsch. Mein Mann ist bei seinen Eltern in der Bronnaja. In einer halben Stunde holt er mich vor dem McDonald’s ab, es ist also alles okay. Wenn wir jetzt aufbrechen, ist das ein gemütlicher Spaziergang.«
Sie liefen langsam den Boulevard vom Arbat bis zur Twerskaja hinunter. Die
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