Anastasija 06 - Widrige Umstände
kompromittierendes Material gegen Pawlow gesucht, das ist ganz offenkundig. Wozu?«
»Vielleicht, damit er keine Schwierigkeiten machte, wenn sie ihr Buch veröffentlichte?«
Nastja schüttelte den Kopf. »Zu kompliziert. Davor brauchte sie keine Angst zu haben. Jedes philologische Gutachten hätte ihre Urheberschaft bestätigt. Außerdem wäre es nicht damit getan gewesen, Pawlow den Mund zu stopfen. Jeder hätte zufällig beides lesen können, die Dissertation und das Buch, zumal sie demselben Thema gewidmet sind. Nein, es ist etwas anderes. Und vor allem ist völlig unklar, was diese Wissenschaftsangelegenheiten mit dem Mord zu tun haben. Komm, gehen wir schlafen, Dima. Im Bett kann man am besten nachdenken.«
»Eine Frau, die das Bett als Ort zum Nachdenken betrachtet, ist ein hoffnungsloser Fall», seufzte Sacharow scherzhaft.
Aber Dima Sacharow irrte, Nastja war keineswegs ein so hoffnungsloser Fall. Sie war es nur gewöhnt, anstehende Aufgaben der Reihe nach zu lösen.
Nastja lag im kleinen Zimmer der Wohnung von Gordejew junior im Bett und versuchte immer wieder, eine Gleichung aufzustellen, die mit zwei identischen Texten und einer Leiche aufging. Es war fast vier Uhr morgens, als ihr das endlich gelungen war.
Nastja stand auf, warf sich den Bademantel über und ging auf Zehenspitzen zu dem Zimmer, in dem Dima schlief. Die Tür stand weit offen, und Nastja blickte vorsichtig ins Zimmer.
»Dima», flüsterte sie.
Er öffnete sofort die Augen, als hätte er gar nicht geschlafen.
»Warum schläfst du nicht?« Er flüsterte ebenfalls.
»Ich hab’s.«
»Was hast du?«
»Die Lösung. Jetzt ist mir alles klar. Es sind ein paar neue Fragen aufgetaucht, aber dafür gibt es keine Löcher mehr.«
Dima schaltete die Lampe am Kopfende ein und sah in Nastjas strahlendes Gesicht und ihre vor Freude funkelnden leuchtend blauen Augen.
»Verrücktes Weib!«, sagte er leise und lächelte. »Für dich ist die Lösung einer kniffligen Aufgabe süßer als Schokolade. Komm mal her.«
Nastja streckte sich neben ihm auf dem Sofa aus, umschlang seinen Hals und flüsterte aufgeregt:
»Wenn nur bald Morgen wäre! Dann kann ich ein paar Dinge überprüfen . . .«
»Sei still», flüsterte Dima tonlos, drückte sie fest an sich und küsste sie. »Genug jetzt mit dem Schlausein.«
»Ich denke, Folgendes ist passiert«, erzählte Nastja am nächsten Tag Gordejew, der zu ihnen gekommen war. »Als Pawlow 1986 Chef der Ermittlungsabteilung der Innenverwaltung des Gebiets wird, beschließt er, dass ein Doktortitel für seine weitere Karriere nicht übel wäre. Natürlich denkt er nicht daran, die Arbeit selbst zu schreiben. Er wendet sich an eine bestimmte Person, nennen wir ihn Vermittler, der ein Arbeitspferd für ihn finden soll, das sich gern zehntausend Rubel verdienen möchte. So viel kostete damals eine abgabefertige Dissertation, also samt Einleitung, Thesenpapier, Literaturliste und Autorreferat. Der Vermittler findet die Filatowa, die dringend Geld braucht, da sie wegen ihrer Wohnungssituation ihr Privatleben nicht regeln kann. Ihr Verhältnis mit dem Chirurgen Korezki ist in vollem Gange und hätte bestimmt mit Korezkis Scheidung und einer Heirat der beiden geendet, wäre die leidige Wohnungsfrage zu lösen gewesen. Irina setzt sich an die Dissertation und tritt in der Hoffnung auf das versprochene Honorar in eine Wohnungsbaugenossenschaft ein. Aber Pawlow ist ein vorsichtiger Mann. Er stellt dem Vermittler eine Bedingung: Das Arbeitspferd darf auf keinen Fall erfahren, für wen es arbeitet. Weder seinen Namen noch seine Stellung, nicht einmal die Stadt, in der er lebt. Irina kennt ihn nur unter dem fiktiven Namen Wladimir Nikolajewitsch, sie hat nicht einmal seine Telefonnummer. Sie hat nur mit dem Vermittler zu tun, der ihre Koordinaten an den Auftraggeber weitergibt. Die Verbindung ist also einseitig, »Wladimir Nikolajewitsch‹ ruft Irina an, bespricht mit ihr das Thema, den Inhalt der einzelnen Kapitel und Unterpunkte, und als sie ihm mitteilt, dass die Arbeit fertig ist, schickt er den Vermittler den Text abholen. Und verschwindet, ohne zu zahlen. Das ist das Geld, das Irina erwartet, aber nicht bekommen hat. Wo sie den gewissenlosen Auftraggeber finden kann, weiß sie nicht. Auch zu dem Vermittler hat sie keine Verbindung. Sie begreift, dass sie betrogen wurde. Da sie empfindlich und zugleich stolz ist, versucht sie gar nicht, den Betrüger zu suchen. Und erzählt die Geschichte vermutlich auch niemandem.
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