Anastasija 06 - Widrige Umstände
Büro verließ, wollte dem Oberst von dem Anruf berichten, doch als er die Tür aufmachte, sah er Gordejew in seinem Sessel schlafen, den Kopf in den Nacken gelegt, den Hemdkragen aufgeknöpft, die Krawatte verrutscht. Larzew mochte den Chef nicht wecken und beschloss, ihn später anzurufen, aus dem Gefängnis.
In den kurzen Pausen zwischen den Verhören konnte er Gordejew nicht erreichen: Zweimal war besetzt, einmal nahm niemand ab. Eigentlich war der Anruf auch gar nicht so dringend, er wusste, dass das Objekt beschattet wurde und er Gordejew nichts Neues mitteilen würde. Bis auf ein Detail. Aber das konnte warten, das hatte keine Eile. Hauptsache, er selbst hatte alles getan, was er in dieser Situation für richtig und notwendig erachtete. Als er das Untersuchungsgefängnis verließ, unternahm er noch einen Versuch, Gordejew zu erreichen, aber wieder vergeblich. Dann rief Larzew zu Hause an. Die zehnjährige Nadjuscha nahm ab.
»Papa!« Sie schluchzte. »Komm schnell her. Sie haben Mama weggebracht.«
»Wie weggebracht?«, fragte er fassungslos. »Es ist doch noch viel zu früh.«
Larzews Frau war im neunten Monat schwanger.
»Sie haben sie weggebracht«, schluchzte seine Tochter. »Ihr ist schlecht geworden.«
Larzew stürmte nach Hause, ohne auf den Weg zu achten. Mehrere Male wäre er beinahe unter ein Auto geraten, als er, in der Hoffnung, ein Taxi zu bekommen, auf die Straße lief. Natascha und er wollten unbedingt ein zweites Kind. Nach Nadjuscha war dies die dritte Schwangerschaft. Beim ersten Mal hatte sie die Masern bekommen und eine Fehlgeburt gehabt. Beim zweiten Mal war das Kind tot zur Welt gekommen. Larzew hatte Mitleid mit seiner Frau und versuchte sie und auch sich selbst zu überreden, das Vorhaben aufzugeben, aber Natascha blieb stur. »Ich lasse mich nicht davon abbringen«, sagte sie. Auch diesmal war nicht alles glatt verlaufen, aber sie hatten Hoffnung, und inzwischen war sie immerhin schon im neunten Monat. Und nun auf einmal so etwas! Die arme Nadjuscha, sie war jetzt ganz allein zu Hause, weinte, hatte Angst.
Larzew stürzte in die Wohnung, packte seine tränenüberströmte Tochter und rannte ins Krankenhaus.
»Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen«, sagte der Arzt zu ihm. »Die Lage ist sehr ernst. Es ist nicht auszuschließen, dass wir uns entscheiden müssen: für die Mutter oder für das Kind.«
Erschüttert, das zitternde Mädchen an sich gepresst, erstarrte Wolodja Larzew auf einer Bank im Flur. Den Anruf bei Gordejew vergaß er völlig.
Gegen zehn tauchte das Objekt, das für einen ganzen Tag verschwunden gewesen war, auf dem Mir-Prospekt auf.
»Er ist losgegangen«, wurde Gordejew gemeldet.
Der segnete Nastja in Gedanken und eilte die langen Flure der Petrowka entlang und hinunter, zum Wagen.
Als es an der Tür klingelte, kam Nastja gleichsam zu sich. Das innere Zittern hörte auf, die eiskalten Hände wurden augenblicklich heiß. Mit festen Schritten ging sie zur Tür.
»Wer ist da?«
»Larissa?«, fragte ein angenehmer Bariton. »Machen Sie bitte auf. Ich komme von Alexander Jewgenjewitsch.«
Nastja schloss auf und ließ den Besucher ein. Vor ihr stand ein Mann, etwas größer als sie, mit einem schüchternen Gesicht und einem charmanten Lächeln. Er sah aus wie ein ordentlicher Buchhalter. Über der Schulter trug er eine dunkelblaue Männertasche mit einem langen Riemen.
»Ich erwarte niemanden von Alexander Jewgenjewitsch«, sagte sie unwillig. »Wir wollten morgen telefonieren. Wieso die Eile?«
»Wo kann ich mir mal die Hände waschen?«, fragte der Gallier, der ihre Worte ignorierte. »Ihr Treppengeländer ist sehr schmutzig.«
»Hier entlang«, sagte Nastja kühl und führte ihn zum Bad.
Im Bad drehte er blitzschnell beide Wasserhähne voll auf, wandte sich jäh um, packte Nastjas Handgelenk, und im nächsten Augenblick stand Nastja mit dem Rücken ans Waschbecken gepresst; rechts von ihr die Wanne, links die Waschmaschine, vor ihr der Mörder.
Der Gallier hielt mit der Rechten ihre Hand fest, mit der Linken ihre Schulter, und näherte seine Lippen ihrem Ohr.
»Hallo, guten Tag, meine Schöne«, sagte er leise.
Wie in einem Albtraum, dachte Nastja, und ohne jede Hoffnung, aufzuwachen.
»Warum flüstern?«, fragte sie laut.
Die Finger pressten ihr Handgelenk fester, vor Schmerz traten ihr Tränen in die Augen.
»Weil du zu klug bist, um blöd zu sein«, erwiderte der Gallier, ohne die Stimme zu heben. »Wenn du für die Bullen arbeitest,
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