Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
geht es auch um Liebe«, wandte Lilja ein.
»Das ist noch nichts für dich«, erklärte Stassow kategorisch. »Klapp das Buch zu und stell es zurück.«
»Aber Papa . . .«
»Schluss, Kätzchen. Keine Diskussion. Hast du gegessen?«
»Ja, Bouillon und Würstchen mit Salat.«
»Prima. Langweilst du dich auch nicht?«
»Nicht sehr.«
»Hast du auch keine Angst?«
»Nein. Kommst du bald?«
»Verstehst du, ich habe noch was zu erledigen, aber wenn du darauf bestehst, dann verschiebe ich das auf morgen und komme sofort.«
»Nicht doch, Papa, du musst das nicht verschieben. Bei mir ist alles in Ordnung.«
»Na schön, also lies noch ein bisschen, und dann geh schlafen.«
Stassow wusste den Takt seiner Tochter zu würdigen, der zudem eine gehörige Portion kindlicher List enthielt. Sollte der Vater ruhig noch etwas erledigen, dafür konnte sie die Geschichte von Angelique statt nur vierzig Minuten noch ganze zwei Stunden weiterlesen. Vorausgesetzt, sie schlief nicht eher ein.
Er seufzte und wählte erneut, diesmal die Nummer von Degtjar.
»Leonid Sergejewetisch, ist die Kamenskaja noch bei Ihnen?«
»Ja, ich übergebe.«
»Also«, sagte Stassow nach ihrem heiseren »Ja, Wladislaw Nikolajewitsch«, »wenn Sie es sich nicht anders überlegt haben, könnten wir uns jetzt gleich treffen.«
»Danke.«
»Gehen Sie in zwanzig Minuten aus dem Haus, ich hole Sie ab.«
»Danke«, sagte sie noch einmal.
»Vorerst keine Ursache«, knurrte Stassow.
Zwanzig Minuten später bremste er vor dem Haus, in dem der Leiter des Musikstudios wohnte, und erblickte eine große, hagere Gestalt in dunkler Jacke und Jeans. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, wie die Kamenskaja, die er in den Fluren der Petrowka bestimmt hunderte Male gesehen hatte, aussah. Sie öffnete die Wagentür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Stassow schaltete das Licht ein und erinnerte sich plötzlich. Ja, natürlich, das war sie, farblos, unscheinbar, das lange Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Wie mochte es bei ihr wohl mit Männern aussehen? Womöglich ist sie eine alte Jungfer, dachte er.
»Guten Abend, ich heiße Anastasija, von mir aus einfach Nastja und du.«
»Wladislaw. Wlad oder Stass, ganz, wie’s beliebt.«
»Und Slawa?«
»Geht auch.« Stassow lächelte. »Und natürlich auch du.«
Er war sofort erleichtert und beruhigt. Ihm war auf Anhieb klar, dass sie nicht die Geliebte von Oberst Gordejew war. Und überhaupt niemandes Geliebte in dem Sinne, der in Bezug auf ein Verhältnis im Kollegenkreis gewöhnlich gemeint ist. Wenn sie etwas mit General Satotschny verband, selbst wenn sie mit ihm intim war, dann stand dahinter etwas ganz anderes. Keine reine Bettgeschichte, sondern intellektuelle Partnerschaft und freundschaftliche Sympathie. Frauen, die so aussahen und sich so benahmen, waren nie bloße Geliebte, das wusste Stassow genau. Und dass so viel über sie getratscht wurde, sprach nur für sie. Nur über Leute, die nichts darstellten, wurde nicht geredet.
»Wohin fahren wir?«, fragte er, während er den Wagen wendete.
»Zur Stschelkowskoje-Chaussee.«
»Was ist denn da?«
»Da wohne ich. Wenn du nichts dagegen hast, gehen wir zu mir, trinken einen Tee und unterhalten uns ein bisschen.«
»Hör mal, ich hab dich heute schon mal gefragt, ob du auch mal auf die Uhr schaust. Tust du das?«
»Hmhm.« Nastja nickte. »Das tue ich, und ich sehe, dass die Zeit bis morgen früh immer knapper wird, und ich habe immer mehr Fragen. Aber bis morgen früh muss ich wenigstens eine einigermaßen klare Vorstellung von der Situation haben.«
»Schläfst du nachts überhaupt nicht?«
»Doch, und wie. Aber ich kann es auch lassen, wenn ich nachdenken muss. Jetzt links, wir nehmen eine Abkürzung durch die Höfe.«
Es war schon nach halb zwölf, als sie mit dem Lift in den achten Stock fuhren. Als die Kamenskaja die Tür aufschloss, musste sie plötzlich lachen.
»Was ist denn?«, fragte Stassow erstaunt.
»Weißt du, ich empfange heute schon zum zweiten Mal einen fremden Mann, während mein Mann nicht zu Hause ist. Das gibt doch eine hübsche Zeugenaussage, oder? Eine wachsame Nachbarin, und ade, guter Ruf. Dabei ist alles total harmlos, das ist das Ärgerliche. Komm rein, leg ab.«
»Du bist verheiratet?«, fragte Stassow unwillkürlich, noch ehe er seine Zunge im Zaum halten konnte.
»Ja, wieso? Sehe ich nicht so aus? Du hast mich für eine alte Jungfer gehalten, stimmt’s?«
»Kannst du Gedanken lesen?« Er lachte,
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