Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
einem einzigen offenen Raum bestand, mit Wänden voller Fotos von berühmten Musikern und Sängern. Mit halbem Ohr hörte sie Verdis unsterbliche Musik und mochte gar nicht gehen, obwohl der Anstand verlangte, den Besuch zu beenden – es war schon nach zehn.
»Erzählen Sie mir von Soja Semenzowa«, bat sie.
»Was soll ich Ihnen da erzählen? Wenn ich recht verstehe, wollen Sie wissen, ob sie Alina getötet haben könnte?«
»Sie sind sehr direkt, Leonid Sergejewitsch.«
»Erschreckt Sie das? Also, ich werde Ihnen antworten: Ja, das könnte sie. Von ihrem seelischen Zustand, von ihrer Psyche her ja. Durchaus. Aber von ihren körperlichen Voraussetzungen her kaum. Alina ist zwar keine Basketballerin, aber auch kein Krümel, sie ist etwa einssiebzig groß. Das weiß ich noch aus der Zeit, als ich mit ihr gedreht habe. Soja aber ist klein und mager, wie die meisten Trinker, Beine wie Stecken, Arme wie Streichhölzer. Erschießen – ja, vergiften auch. Aber nicht ersticken.«
»Aber angenommen, Alina Wasnis war bewusstlos? Sie schlief, war betrunken oder ohnmächtig?«
»Ja, dann . . .« Degtjar zuckte mit den Achseln. »Gibt es denn Anhaltspunkte dafür, dass sie bewusstlos war, als sie starb?«
»Bislang nicht«, gestand Nastja. »Der Obduktionsbefund liegt erst morgen vor. Das war nur so eine Frage, für alle Fälle. Glauben Sie denn, die Semenzowa hat die Kränkung über so viele Jahre nicht verwunden? Damals, vor fünf Jahren, war ihr Hass doch bestimmt wesentlich stärker als jetzt, oder? Warum also nicht damals? Warum gerade jetzt?«
»Aber ja, meine Liebe, gerade jetzt. Eben gerade jetzt, wo Alinas Stern aufgeht, wo ihr Weltruhm winkt. Wo aus dem hoffnungsvollen Talent ein Star geworden ist. Da wird es doch erst richtig schlimm. Da lebt der alte Hass wieder auf. Möchten Sie einen Tee?«
»Es ist mir sehr peinlich, Leonid Sergejewitsch, es ist schon spät, Sie sind krank, und ich belästige Sie. Ich müsste Sie eigentlich längst in Ruhe lassen, obwohl ich noch viele Fragen habe.«
»Sie müssen sich nicht genieren.« Degtjar lächelte. »Ich bin im Moment allein, meine Frau ist mit den Enkeln auf der Datscha, Sie stören also niemanden. Und außerdem, wenn Sie jetzt gehen, was ist dann mit der ›Traviata‹, die Sie angeblich so mögen?«
Er zwinkerte verschmitzt und lachte.
»Bleiben Sie also, bis der Film zu Ende ist, dann nehmen Sie die Kassette mit und geben mir gelegentlich eine leere dafür.«
»Dann fragen Sie mich noch einmal, ob ich einen Tee möchte, und ich werde Ihnen ehrlich antworten, dass mir Kaffee lieber wäre.«
Dieser vom Hexenschuss gekrümmte Mann gefiel Nastja immer besser, und sie nahm sein Angebot noch zu bleiben mit Freuden an. Doch wie sollte sie so spät noch nach Hause kommen? Anastasija Kamenskaja war keineswegs so kühn und unerschrocken, wie Kriminalisten gern dargestellt werden. Dunkle Straßen fürchtete sie genauso wie jede andere Fünfunddreißigjährige, vielleicht sogar ein bisschen mehr, denn sie las täglich die Verbrechensmeldungen, und sie konnte weder schnell laufen noch zielsicher schießen. Da kam ihr eine Idee.
»Leonid Sergejewitsch, haben Sie die Nummer Ihres Sicherheitschefs?«
»Von Wladislaw Nikolajewitsch? Selbstverständlich. Jeder Mitarbeiter von Sirius, bis hin zur Putzfrau, hat die Nummer, unter der er jederzeit zu erreichen ist. Sein Mobiltelefon.«
»Rufen Sie ihn doch bitte an, ich möchte ihn sprechen.«
Stassow
Er war auf dem Heimweg, müde und mürrisch, nachdem er mehrere Stunden darauf verschwendet hatte zu erkunden, wo sich die Frau seines Chefs letzte Nacht rumgetrieben hatte. Das wenige, das er in Erfahrung gebracht hatte, gefiel ihm nicht. Vormittags war Xenija zu Hause gewesen, bis gegen zwei, dann hatte sie in der Bar des Filmzentrums Kaffee getrunken. Vermutlich nicht nur Kaffee, jedenfalls war sie dort bis etwa gegen fünf gesehen worden. Dann kam ein Loch bis Viertel vor acht, als sie sich mit einer Freundin an der Metrostation »Krasnyje worota« traf, um von ihr wieder einmal ein Rezept für Beruhigungsmittel entgegenzunehmen. Die Freundin arbeitete in einer neuro-psychologischen Beratungsstelle und versorgte Xenija mit Rezepten, die ein Arzt ihr auf ihre Bitte hin ausstellte. Sie waren um halb acht verabredet, doch die Masurkewitsch kam wie üblich etwa eine Viertelstunde zu spät. Danach klaffte wieder eine Lücke, und zwar bis zu ihrer Rückkehr nach Hause um drei Uhr morgens.
Der Körper der toten Alina Wasnis
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