Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
sonnenklar. Wer nährte schon gern eine Schlange an seinem Busen? Und wenn er sie deckte und die Miliz bewusst irreführte? Seine ehemaligen Kollegen zu beschwindeln war kein Kunststück, und auch Xenija konnte er raushauen, aber was weiter? Masurkewitsch würde wissen, dass er, der Sicherheitschef Wladislaw Stassow, die Kriminalpolizei professionell an der Nase herumführte und einen Mörder der Strafverfolgung entzog. Morgen würde er diese Information an irgendjemanden weitergeben, übermorgen würde sie in bestimmten Kreisen kursieren, und am fünften Tag würden ein paar knallharte Typen vor seiner Tür stehen und verlangen, dass er für sie arbeitete. Wenn er sich darauf einließe, geriete er womöglich in so kriminelle Machenschaften, dass er nach einem halben Jahr im Knast landete, vielleicht sogar die Höchststrafe bekäme. Wenn nicht – hätte er vielleicht noch zwei Stunden zu leben, maximal drei. Nein, die Kamenskaja hatte wohl Recht, er musste mit ihr auskommen und Alinas Mörder suchen, wer immer das sein mochte. Lieber ohne Job, aber am Leben, als mit Job, aber tot.
»Ich werde dir erzählen, warum ich Boris Rudin nicht mag und nicht für ihn arbeiten will. Und außerdem werde ich dir erzählen, dass Masurkewitsch mich heute zu sich bestellt und mich gebeten hat, das Alibi seiner Frau Xenija zu überprüfen.«
Alina Wasnis
Fünf Jahre vor ihrem Tod
»Leonid Sergejewitsch! Sie sind mit dem Sujet und der Musik des ›Troubadour‹ wahrscheinlich gut vertraut, haben diese Oper aber noch nie auf Russisch gehört. Denn sonst wären Ihnen die Worte der Azucena am Schluss aufgefallen. Die Worte, mit denen die Oper im Grunde endet. Sie blickt aus dem Fenster, als ihr Pflegesohn Manrico hingerichtet wird, und ruft: ›Gerächt hab ich dich, o Mutter!‹ Diese Worte werfen alle Vorstellungen von der Figur der alten Zigeunerin um.
Wer ist Azucena? Eine Zigeunerin aus dem Zigeunerlager. Vor vielen Jahren wurde ihre Mutter im Schloss des Grafen Luna gefangen genommen und wegen Hexerei verbrannt. Weshalb? Weil man sie neben dem Bett eines Sohnes des Grafen ertappt hatte und dieser anschließend krank und siech wurde. Können wir davon ausgehen, dass Azucenas Mutter völlig unschuldig war? Können wir ganz sicher sein, dass die Krankheit des Kindes ein Zufall war und nicht durch bösen Vorsatz der Zigeunerin erzeugt wurde? Denn wenn sie nichts Schlechtes vorhatte, warum schlich sie sich dann ins Schloss, warum stand sie vor dem Bett des Kindes? Ich neige eher zu der Annahme, dass Azucenas Mutter schuldig war, vielleicht gab sie dem Jungen Gift, vielleicht wirkte sie mittels übersinnlicher Kräfte auf ihn ein, jedenfalls war sie schuld. Und wurde völlig zu Recht bestraft, wenn auch unangemessen grausam.
Was geschieht weiter? Azucena, die ihre Mutter rächen will, schleicht sich ins Schloss des Grafen und raubt einen seiner Söhne, der noch ganz klein ist. Sie raubt ihn, um ihn zu verbrennen. Ein Kind töten? Ein unschuldiges Kind? Selbst aus Rache – Sie müssen zugeben, Leonid Sergejewitsch, das ist unchristlich. Das ist gottlos. Und gereicht der in gerechtem Zorn entflammten Azucena keineswegs zur Ehre.
Weiter: Azucena, selbst vor kurzem Mutter geworden (was im Übrigen ihre Grausamkeit unterstreicht – selbst ein Kind zu haben und kein Erbarmen mit einem fremden Kind zu empfinden), trägt das Kind zum Scheiterhaufen, auf dem soeben ihre Mutter verbrannt wurde. Doch in ihrer heftigen Erregung wirft sie statt des Sohnes des verhassten Grafen Luna ihr eigenes Kind ins Feuer. Anschließend, als sie genug geweint und getrauert hat, nimmt sie den geraubten Säugling und zieht ihn auf wie ein eigenes Kind. Fragt sich warum? Wenn du den Grafen so stark hasst, dann setz doch seinen Sohn im Wald aus, sollen ihn die Wölfe fressen. Oder verbrenne ihn ebenfalls, das Feuer war doch bestimmt noch nicht erkaltet. Aber nein, Azucena hat Erbarmen mit dem Kind und empfindet offensichtlich Reue. Nachdem sie gerade ihren eigenen Sohn verloren hat, begreift sie das Entsetzliche, das sie dem Grafen antun wollte und am Ende sich selbst angetan hat. Logisch wäre gewesen, das Kind nun ins Schloss zurückzubringen, um dem Grafen das Leid zu ersparen, das sie gerade selbst erfahren hatte. Aber das tut sie nicht! Also waren es nicht Erbarmen und Reue, von denen sie sich leiten ließ. Was dann?
Ich denke, Azucena behielt den kleinen Grafen nur aus einem einzigen Grund: um die plötzliche Leere auszufüllen. Seit der Geburt ihres
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