Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
verraten. Bist du etwa bereit, ihnen das zu verzeihen?«
»Ich weiß nicht, Lara. Im Moment weiß ich gar nichts, außer dass ich völlig erschöpft bin und nirgends mehr hingehen möchte. Ich kann nicht ohne Geld und Geschenke zu Hause bei meinen Eltern auftauchen. Dieses Problem muss ich als Erstes lösen.«
»Das werden wir schon hinkriegen«, versprach Larissa. »Wir werden Geld für dich auftreiben, Klamotten und Geschenke. Ich werde alle meine Bekannten anrufen, jetzt machen alle Urlaub in der Türkei, bestimmt hat jemand noch ein paar Souvenirs und mitgebrachte Geschenke übrig. Vorläufig kannst du bei uns wohnen.«
»Und Slawa? Werde ich euch nicht zur Last fallen?«
»Slawa ist im Moment auf der Datscha und wird in nächster Zeit nicht zurückkommen.«
»Warum? Habt ihr Probleme miteinander?«
»Nein«, winkte Larissa ab, »er ist in einer inneren Krise, weil er seine Arbeit verloren hat. Er nimmt sich das sehr zu Herzen und leidet. Und in solchen Zeiten zieht er es vor, allein zu sein.«
»Wieso hat er seine Arbeit verloren? Ist er denn von Strelnikow weggegangen?«
»Nein, dein heiß geliebter Strelnikow ist von ihm weggegangen. Von ihm und von Gena Leontjew. Er hat sie beide genauso verlassen wie dich. Lieber Gott«, stöhnte Larissa auf, während sie mit beiden Händen ihren Kopf umfasste, »wenn du wüsstest, Ljuba, wie ich ihn hasse! Wie ich ihn hasse! Am liebsten würde ich ihn umbringen.«
Zweites Kapitel
Ljuba Sergijenko kehrte erst drei Wochen nach ihrer Ankunft in Moskau nach Hause zurück. Bis dahin wohnte sie bei den Tomtschaks. Die mitfühlende Larissa hatte sich mit ihr solidarisiert und erklärt, dass sie in diesem bedauernswerten Zustand tatsächlich nicht vor ihre Eltern treten dürfe. Ljuba hatte sich in den Monaten in der Türkei natürlich jeden Tag im Spiegel gesehen und deshalb nicht bemerkt, wie sehr sie sich in dieser Zeit verändert hatte. Anderen, die sie lange nicht gesehen hatten, fiel das sofort auf. Trübe, tief in den Höhlen liegende Augen mit einem bittenden, unterwürfigen Ausdruck, ein bleiches Gesicht mit eingefallenen Wangen. Dass sie nicht braun gebrannt war, hätte man damit erklären können, dass sie in der Türkei jeden Tag arbeiten musste und nie an die Luft kam, aber für das von Schlafmangel und Unterernährung gezeichnete Gesicht ließ sich keine Begründung finden. Vor allem aber der gequälte, gehetzte Blick . . .
Larissa befahl Ljuba, so viel wie möglich zu schlafen und zu essen, sie versorgte sie mit Vitaminen und fuhr kreuz und quer durch die Stadt, um Freunden Klamotten und Souvenirs abzubetteln, die diese von ihrem Urlaub in der Türkei mitgebracht hatten. Mit dem Geld gab es keine Probleme. Larissa hatte zwar nicht viel davon, aber genug, um Ljubas Eltern damit zu täuschen.
»Gib es mir zurück, sobald du kannst«, sagte sie entschieden und reichte Ljuba ein Kuvert mit dreitausend Dollar. »Es hat keine Eile. Es ist mein eigenes Geld, Tomtschak weiß nichts davon. Ich habe es für den Notfall gespart, und jetzt ist dieser Notfall eingetreten.«
»Und was ist mit euch?«, fragte Ljuba schuldbewusst. »Du hast doch gesagt, dass Slawa arbeitslos ist. Wovon wollt ihr leben?«
»Wir haben in den letzten Jahren genug verdient. Dein Strelnikow, dieser Gauner, hat jede Menge Geld gemacht, und wir haben auch davon profitiert. Slawas Tragödie besteht nicht darin, dass er seine Arbeit verloren hat und dass wir jetzt kein Geld mehr zum Leben hätten, sondern darin, dass Strelnikow ihn verraten hat. Er hat ihn dazu gebracht, eine viel versprechende Stellung aufzugeben und gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Und jetzt braucht er ihn nicht mehr. Dasselbe hat er mit Gena Leontjew gemacht. Hätten sie sich damals nicht auf Strelnikow eingelassen, wären sie heute noch in ihren alten Stellungen, der eine als Dekan, der andere als Laborleiter, oder sie wären inzwischen sogar Prorektoren geworden. Aber wer sind sie heute? Die Wissenschaft ist eine schreckliche Sache, Ljuba, schrecklicher als eine Frau, die einen Treuebruch nicht verzeiht. Zu einer verlassenen Frau kann ein Mann zurückkehren, wenn er nur ordentlich auf die Tränendrüse drückt und ihr Mitleid erregt, aber die Wissenschaft braucht weder deine Tränen noch deine reuevollen Schuldbekenntnisse. Sie bleibt nicht stehen, sie entwickelt sich ständig weiter, und wenn du ihr auch nur ein Jahr fern geblieben bist, ist es aus, dann bist du hoffnungslos zurückgeblieben. Neue Entdeckungen, neue
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