Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
sich durch mich nicht stören.«
Ljuba wählte die Nummer der Leontjews. Gena Leontjew war einer von Strelnikows Stellvertretern und sein enger Freund. Er musste wissen, wo Wolodja zu finden war. Aber auch diesmal hatte sie Pech. In der Leitung ertönten nur die langen leeren Zeichen, die besagten, dass niemand zu Hause war. Blieb nur noch Slawa Tomtschak, ebenfalls ein Freund und Stellvertreter von Strelnikow. Er war Ljubas letzte Hoffnung. Wenn sie auch ihn nicht erreichen sollte, würde sie überhaupt nicht mehr wissen, was tun.
»Hallo!« In der Leitung ertönte die vertraute Stimme von Larissa Tomtschak, Slawas Frau.
»Lara, ich bin es, Ljuba«, sagte sie mit gepresster Stimme.
»Welche Ljuba?«, fragte Larissa verständnislos, doch dann besann sie sich plötzlich. »Guter Gott, Ljuba, bist du zurückgekommen? Wann? Wo bist du?«
»Ich bin auf dem Flughafen Scheremetjewo, im Büro der Miliz.«
»Warum bei der Miliz? Ist irgendetwas passiert?«, fragte Larissa beunruhigt.
»Nein, ich habe einfach kein Geld zum Telefonieren, und man hat mir erlaubt, das Diensttelefon zu benutzen. Wo ist Strelnikow?«
Einen Moment lang war in der Leitung nur beklommenes Schweigen zu hören.
»Er . . . er ist weggefahren. Hätte er dich abholen sollen?«
»Ja, eigentlich schon. Jedenfalls habe ich ihn darum gebeten.«
»Ljuba, bleib, wo du bist, ich komme gleich und hole dich. Warte in einer Dreiviertelstunde unter der Ankunftstafel auf mich. Hast du mich verstanden?«
»Heißt das, dass Wolodja mich nicht abholen wird?«, fragte Ljuba aus irgendeinem Grund nach, obwohl völlig klar war, dass keinerlei Hoffnung bestand. Wie hätte er sie abholen können, da er weggefahren war! Wahrscheinlich hatte er auch ihre Nachricht nicht erhalten, wahrscheinlich war er, als sie zum letzten Mal angerufen hatte, schon nicht mehr in Moskau gewesen.
»Ich werde dich abholen, Ljuba, ich fahre gleich los. In einer Dreiviertelstunde unter der Ankunftstafel.«
Ljuba trank ihren Tee aus und bedankte sich höflich bei dem gutherzigen Milizionär.
»Haben Sie endlich jemanden erreicht?«, fragte Georgij.
»Ja, danke.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte, gern.«
»Haben Sie Eltern?«
»Ja, natürlich.«
»Leben sie hier, in Moskau?«
»Ja.«
»Warum haben Sie dann nicht Ihre Eltern angerufen? Wäre das nicht das Nächstliegende?«
Warum . . . Darum! So konnte sie ihren Eltern nicht unter die Augen treten. Sie war auf Einladung eines türkischen, auf Hotelbau spezialisierten Unternehmens in die Türkei geflogen. Mila und sie hatten eine Hotelfachschule abgeschlossen und wollten als diplomierte Hotelfachfrauen in einem großen Touristenhotel praktische Berufserfahrung sammeln. Die Vertreter der türkischen Firma hatten sie in Moskau kennen gelernt, und diese hatten ihnen gute Arbeitsstellen in einem der großen türkischen Badeorte versprochen, in Bodrum, Izmir, Kemer oder Antalya. Das klang überzeugend, denn schließlich waren sie Vertreter einer soliden Firma, die in der Türkei Touristenhotels für Urlauber aus aller Welt baute. Zudem verhielten die Männer sich anständig, sie machten keinerlei Annäherungsversuche oder Anspielungen. Sie waren den Mädchen einfach wohl gesonnen und wollten ihnen helfen, Berufserfahrung in Hotels mit internationalem Standard zu sammeln.
»Geld braucht ihr nicht mitzubringen«, hatten sie den Mädchen versichert, »das werdet ihr nicht brauchen. Nur für die ersten paar Tage, bis das Organisatorische geklärt ist. Dann tretet ihr eure Stellen an und bekommt sofort einen Vorschuss. Das Monatsgehalt für eine Fachkraft im Hotelmanagement liegt bei zweitausend Dollar, und wenn ihr die Arbeit eine Urlaubssaison lang macht, wird es euch für alles reichen. Ihr könnt nach Herzenslust schlemmen, euch mit Gold behängen, in Leder und Pelz hüllen, und dann bleibt euch immer noch eine ordentliche Summe, die ihr nach Hause mitnehmen könnt.«
Das war eine viel versprechende Aussicht. Die beiden Mädchen kauften sich Flugtickets und flogen im April, zu Beginn der Urlaubssaison, nach Antalya. Jede hatte ganze fünfzig Dollar bei sich. Nach den Ausgaben für Tickets und Klamotten, die sie für Arbeit und Leben bei vierzig Grad Hitze brauchten, waren die beiden blank. Natürlich hätten sie Strelnikow anpumpen können, aber wozu sollten sie sich verschulden, da die türkischen Männer ihnen versichert hatten, dass sie kein Geld brauchen würden. Wie hatten sie wissen können, welche Wendung die Dinge
Weitere Kostenlose Bücher