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Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Titel: Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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gut.«
    Sie ging entschlossen zur Tür.
    »Wohin gehst du?«, fragte Ljuba hilflos.
    »Das ist meine Sache. Mit einer wie dir kommt man sowieso auf keinen grünen Zweig. Ich mache mich allein auf den Weg, so komme ich besser aus diesem Sumpf hier heraus.«
    Die Tür fiel ins Schloss. Erst nach etwa fünf Minuten fiel Ljuba ein, dass sie Mila gar nicht gefragt hatte, ob sie ihren Anteil für das Zimmer bezahlt hatte. Sie sprang auf und lief zum Taxistand, aber es war zu spät. Die Türkei war nicht Russland, hier musste man nicht auf Taxis warten, sie standen immer bereit.
    Am nächsten Tag ging Ljuba noch einmal in das Büro des Chefs.
    »Wenn Sie meine Freundin bezahlt haben, müssen Sie mich auch bezahlen«, sagte sie entschieden.
    »Deine Freundin hat viel besser gearbeitet als du«, erwiderte der Mann ungerührt. »Darum hat sie auch ihr Geld bekommen. Aber du hast schlecht gearbeitet. Euer Arbeitspensum war nicht allzu groß, ihr hattet zu zweit nicht mehr als fünfundzwanzig Klienten pro Tag zu bedienen, ihr musstet euch nicht überanstrengen, aber deine Freundin hatte einen festen Kundenstamm. Und das heißt, dass man mit ihrer Arbeit zufrieden war. Und wenn die Gäste zufrieden sind, dann bin auch ich zufrieden. Das ist das Arbeitsprinzip meines Hotels.«
    »Von den fünfundzwanzig Massagen, die pro Tag anfielen, habe zwanzig ich gemacht«, widersprach Ljuba, »und Mila nur fünf. Das ist ungerecht. Sie müssen mich für meine Arbeit bezahlen. Die Tatsache, dass Mila einen festen Kundenstamm hatte, ist letzten Endes auch mein Verdienst. Ich habe ohne Pause geschuftet, damit die Gäste nicht warten mussten, weil Mila für ihre Massagen immer sehr lange brauchte. Zu lange. Sie wissen genau, was ich meine. Wenn ich so langsam gearbeitet hätte wie Mila, hätte es lange Wartezeiten gegeben, und die Gäste hätten sich bei Ihnen beschwert. Aber sie haben sich nicht beschwert, nicht wahr?«
    »Ich weiß von nichts«, winkte der Türke ab. »Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich euch für eure Arbeit pauschal bezahle und nicht jede einzeln. Ihr müsst das unter euch abmachen, das ist euer Problem. Ich habe das Geld deiner Freundin gegeben, hole dir deinen Anteil bei ihr.«
    Ljubas Wortschatz der höflichen Konversation war erschöpft, und sie gab auf. Es war klar, dass der Mann nicht zahlen wollte, und dagegen war sie machtlos. Sie hatte hier keinerlei Rechte, sie besaß weder ein Visum noch Geld noch eine Arbeitserlaubnis.
    Es stellte sich heraus, dass Mila abgereist war, ohne ihren Anteil an dem gemeinsamen Zimmer bezahlt zu haben. Zum Glück war der Hauswirt ein mitleidiger Mensch und erklärte sich bereit, so lange zu warten, bis Ljuba in der Lage war, die Miete zu bezahlen. Nach ein paar Tagen begriff sie, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie wusste nicht, wie sie zu Geld kommen sollte, und ging erneut zu ihrem Hauswirt. Der überlegte eine Weile und bot ihr eine Arbeit in seinem Geschäft an. Dafür konnte sie kostenlos bei ihm wohnen und essen. In ein paar Monaten, erklärte er in gebrochenem Deutsch, wirst du deine Schulden auf diese Weise getilgt haben.
    Die Arbeit in dem Bekleidungsgeschäft bestand darin, russische Kunden anzulocken und zu bedienen. Ljuba stand auf der Schwelle des Geschäfts oder saß auf einem Stuhl und musste sich auf jeden vorübergehenden Russen stürzen, um ihn zum Betreten des Geschäfts zu animieren. Das war schrecklich. Ljuba wusste, dass russische Kunden sich grundsätzlich von anderen unterschieden. Ein Deutscher, ein Norweger oder ein Engländer betraten ein Geschäft nur dann, wenn sie etwas brauchten. Sie gingen nur mit einer ganz konkreten Kaufabsicht in ein Geschäft. Wenn sie nichts kaufen wollten, saßen sie in einer Bar und tranken Bier. Die Russen hingegen, die an jahrzehntelangen Warenmangel und an ständige Jagd nach defizitären Artikeln gewöhnt waren, betraten einen Laden für alle Fälle. Man konnte ja nie wissen, ob nicht gerade etwas angeboten wurde, was man später nie wieder bekommen würde. Brauchte man es nicht jetzt, würde man es irgendwann später brauchen. Und dieses Verhalten war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, obwohl in Russland oder jedenfalls in Moskau das Wort »Defizit« inzwischen aus dem Sprachgebrauch verschwunden war und man in den Geschäften alles bekam, was das Herz begehrte. Die Russen, die Ljuba ins Innere des Ladens locken konnte, betrachteten nörglerisch die Blusen, Kleider, Shirts und Sportanzüge, fragten nach den

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