Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
Bedürfnisse hatten, kein eigenes Leben. Und dabei vermied er geschickt jede Konfrontation. Es konnte geschehen, dass er morgens Viertel nach neun von wer weiß woher (unter Umständen aus seinem warmen Bett) bei seiner Sekretärin anrief.
»Sagen Sie Leontjew, dass um zehn Uhr eine Sitzung im Ministerium stattfindet und dass er an meiner Stelle hinfahren soll. Wenn Sie ihn nicht erreichen, schicken Sie Tomtschak. Ich komme heute erst nach eins ins Büro.«
Strelnikow wusste von der Sitzung bereits seit drei Tagen, aber beim Aufwachen an diesem Morgen verspürte er nicht die geringste Lust, sich auf den Weg zu machen. Wie gut, dass es auf der Welt so etwas wie Stellvertreter gab, die, wie das Wort schon sagte, dazu da waren, ihn zu vertreten. Und wie gut, dass es Sekretärinnen gab, die man anrufen und beauftragen konnte, Anweisungen weiterzugeben. Hätte er seine Stellvertreter persönlich angerufen, hätten sie womöglich schwer wiegende Gründe vorgebracht, die es ihnen unmöglich machten, auf ihn zu warten oder an der Sitzung teilzunehmen. Der Sekretärin konnten sie diese Gründe nicht entgegenhalten, da sie lediglich eine Anweisung des Chefs weitergab. Und dabei interessierte es Strelnikow nicht im Geringsten, was seine Stellvertreter an diesem Tag vorhatten, wie viele Termine sie ausfallen lassen mussten, um ihm die Arbeit abzunehmen. Es zählten nur seine eigenen Termine, seine eigenen Interessen.
Er ahnte nicht einmal, wie viele Familiendramen er auslöste und wie viel Nerven sein Verhalten die Ehefrauen und Kinder seiner Freunde und Stellvertreter kostete. Zwei dieser Dramen waren besonders bedeutsam, sie hatten die Stimmung in der Familie verdorben und waren lange Zeit nicht mehr aus dem Gedächtnis zu tilgen. Der erste Zwischenfall fand bei den Leontjews statt. Deren zwölfjährige Tochter Alissa lag im Krankenhaus, man hatte sie an der Bauchhöhle operiert und wollte sie nach drei Tagen wieder entlassen. Im Grunde hätte sie bis zur Entfernung der Nähte im Krankenhaus bleiben müssen, also mindestens eine Woche, aber da sehr großer Patientenandrang herrschte, schickte man die Kinder so schnell wie möglich nach Hause, wenn die Eltern nichts dagegen hatten. Gena hatte der Sekretärin Bescheid gesagt, dass er seine Tochter vom Krankenhaus abholen musste und deshalb am Vormittag nicht ins Büro kommen konnte. Er hatte mit dem Fahrer seines Dienstwagens vereinbart, dass dieser ihn und seine Frau um halb zehn von zu Hause abholen würde. Beide waren auf die Straße hinuntergegangen und warteten, doch das Auto kam nicht. Zuerst machten sie sich noch keine Sorgen, sie nahmen an, dass der Fahrer in einem Stau stecken geblieben war und jeden Moment auftauchen würde. Doch um zehn Uhr war er immer noch nicht da. Gena ging zurück in die Wohnung und rief im Büro an. Das, was er dort erfuhr, brachte ihn aus der Fassung. Wladimir Alexejewitsch hatte an diesem Morgen den Dienstwagen seines Stellvertreters für sich geordert, weil sein Privatauto nicht angesprungen war, und mit seinem eigenen Dienstwagen war Ljuba unterwegs. Er hatte sie zum Flughafen geschickt, um irgendeine Verwandte oder Freundin abzuholen. Strelnikow war es gar nicht in den Sinn gekommen, Leontjew vorher anzurufen und zu fragen, ob er an diesem Vormittag auf seinen Dienstwagen verzichten konnte.
Gena geriet in Panik. Seine Tochter wurde um zehn Uhr entlassen, man hatte die Eltern gebeten, sich nicht zu verspäten, da das Mädchen sonst in der Halle des Krankenhauses würde warten müssen. Man konnte sie nicht länger auf der Station behalten, da die Betten für neue Patienten gebraucht wurden. Gena hielt einen Privatwagen an, dessen Besitzer sich für eine horrende Summe bereit erklärte, ans andere Ende der Stadt zu fahren, zum Krankenhaus, und die Eltern zusammen mit Alissa wieder nach Hause zu bringen. Auf dem ganzen Weg zum Krankenhaus schwieg Anna beharrlich, aber Gena war klar, dass sie dasselbe dachte wie er selbst: Das Mädchen saß mit der unerträglich schmerzenden Operationswunde und den Nähten in der Bauchdecke allein in der Halle und verstand nicht, warum die Eltern nicht kamen. Die Leontjews kamen erst nach zwölf Uhr im Krankenhaus an, Alissa saß blass und zitternd in der Halle und drückte krampfhaft das Päckchen mit ihren Sachen an die Brust, über ihre Wangen liefen dicke Tränen. Als sie ihre Eltern erblickte, brach sie in lautes Schluchzen aus, zitterte am ganzen Körper und konnte auch während der Heimfahrt nicht zu
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