Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
keinen Bissen hinunter. Sie hatte das Gefühl, sie würde sich verschlucken und sofort ersticken. Das kam gelegentlich bei ihr vor. Schon in ihrer frühen Kindheit hatte sie die Angst vor dem Essen überfallen, wenn sie in nervlicher Anspannung war. Vor Klassenarbeiten in der Schule, vor Prüfungen. Später, in ihrer Jugend, wenn es Streit mit den Jungs gab oder wenn sie unglücklich verliebt war.
Sie schob den Teller mit einer entschiedenen Handbewegung zur Seite und schüttete gierig ein Glas Mineralwasser hinunter.
»Warum isst du nicht? Schmeckt es dir nicht?«
»Doch. Danke, Lara, ich bin schon satt. Erklär mir jetzt bitte endlich, was das alles zu bedeuten hat. Was geht hier vor?«
»Ljuba, ich werde die etwas Unangenehmes sagen müssen. Wappne dich bitte.«
»Ich habe nichts mehr, um mich zu wappnen«, lächelte Ljuba. »Die sengende Sonne im türkischen Paradies hat mich völlig ausgebrannt. Du brauchst mich nicht zu schonen. Alles, was es an Schlechtem geben kann, ist schon passiert. Wo ist denn nun mein Strelnikow? Wohin ist er verschwunden?«
»Er ist für zwei Wochen nach Spanien gefahren, an die Costa Brava.«
»Eine Geschäftsreise für den Fonds?«
»Nein, er macht Urlaub.«
»War er so erschöpft?«, fragte Ljuba skeptisch.
»Nein, er ist in den Flitterwochen.«
»Wie bitte? Was hast du gesagt?«
Ljuba war sich sicher, dass sie sich verhört hatte. Wie konnte Strelnikow in den Flitterwochen sein, da er seit zwanzig Jahren verheiratet war? Die letzten zwei Jahre hatte er mit ihr, Ljuba Sergijenko, zusammengelebt, nachdem er seine Frau verlassen und sich eine eigene Wohnung gekauft hatte. Kurz vor Ljubas Abreise in die Türkei war die Rede davon gewesen, dass er sich in nächster Zeit scheiden lassen würde, um Ljuba zu heiraten, sobald sie wieder zurück war. Wie konnte er in die Flitterwochen gefahren sein? Mit wem? Mit seiner Frau Alla?
»Ich habe gesagt, dass Strelnikow in den Flitterwochen ist«, wiederholte Larissa Tomtschak laut und deutlich.
»Mit wem?«, fragte Ljuba mit ausgetrocknetem Mund.
»Mit deiner Freundin Mila.«
»Nein!«
Einschlafen, aufwachen und feststellen, dass man geträumt hat . . .
»Doch. Ich habe dir ja gesagt, dass du dich auf eine unangenehme Neuigkeit gefasst machen musst.«
»Heißt das, dass er sich hat scheiden lassen?«
»Warum sollte er solche Anstrengungen unternehmen? Offiziell ist er nach wie vor mit Alla verheiratet. Mila und er haben sich nur kirchlich trauen lassen.«
»Unsinn, purer Unsinn . . .«, murmelte Ljuba. »Ich bin krank, ich habe hohes Fieber, und das alles ist ein Fiebertraum. Das ist unmöglich.«
Larissa erhob sich, trat von hinten zu Ljuba heran, umarmte sie und legte ihre kühle Handfläche auf die glühende Stirn des Mädchens.
»Ljuba, Liebes, du wirst es überleben, so schwer es auch ist. Weder Tomtschak und ich noch die Leontjews haben das akzeptiert. Mir ist klar, dass das kein Trost für dich ist, aber eines sollst du wissen: Zusammen mit Mila empfangen wir Strelnikow nicht bei uns zu Hause. Wir alle lieben dich und leiden mit dir. Aber wir können Strelnikows Handlungen nicht beeinflussen. Das steht nicht in unserer Macht.«
Ljuba schloss die Augen und lehnte ihren Kopf zurück, an Larissas weiche Brust.
»Wie ist das passiert?«
»Nach ihrer Rückkehr im Juni ist Mila gleich zu Strelnikow gelaufen. Sie wollte ihm von deinen Angelegenheiten berichten und einen Brief von dir übergeben. Hattest du ihm geschrieben?«
»Ja. Und ich habe Mila den Brief für ihn mitgegeben.«
»Dann hast du also selbst dafür gesorgt, dass sie sich kennen gelernt haben. Ich weiß nicht, was zwischen den beiden passiert ist, aber bereits im Juli tauchte Mila auf einem Bankett auf, zu dem die Leiter des Fonds mit ihren Ehefrauen eingeladen waren. Tomtschak und ich, Gena Leontjew mit Anna und Wolodja mit deiner Freundin. Wir hatten bis dahin gar nicht gewusst, dass Mila deine Freundin ist. Wir haben einfach eine attraktive Blondine an seiner Seite gesehen und geglaubt, dass er irgendeine Zufallsbekanntschaft mitgebracht hat, weil du nicht da warst und er mit Alla keinen Kontakt pflegte. Damit ihm die Veranstalter des Banketts keine überflüssigen Fragen stellen. Aber im August, als Gena Leontjew seinen vierzigsten Geburtstag feierte, kündigte Wolod ja an, dass er mit Mila erscheinen würde. Da wussten wir natürlich Bescheid. Kurz, sie muss ihn im Nu um den Finger gewickelt haben. Aber jetzt erzähl mir doch mal, Ljuba, was dort mit
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