Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
euch passiert ist. Warum seid ihr zusammen weggeflogen und getrennt zurückgekommen? Warum bist du dort so lange hängen geblieben? Wir haben, ehrlich gesagt, gedacht, dass du irgendeinen reichen Türken kennen gelernt und beschlossen hast, in der Türkei zu bleiben. Mila hat das Strelnikow erzählt. Dann wäre die ganze Geschichte irgendwie verständlich. War es so?«
»Nein, Lara, es war ganz anders . . .«
* * *
Die ersten fünf Tage vergingen wie im Rausch. Die türkischen Badeorte waren wahrhaft paradiesisch, erst recht im April, vor dem Einsetzen der drückenden Hitze. Die beiden Mädchen betrachteten verzückt den Goldschmuck in den Schaufenstern, die Preise der Kolliers, Armbänder und Ohrringe erschienen ihnen im Hinblick auf die zu erwartenden zweitausend Dollar pro Monat lächerlich gering. Sie betraten jeden Leder- und Pelzladen, probierten Mäntel und Jacken und wählten schon jetzt die Modelle aus, die sie sich von dem verdienten Geld kaufen wollten. Es fehlte nicht an Einladungen zu einem Tässchen Kaffee, die Inhaber der Geschäfte, Restaurants und Bars lächelten ihnen zu und baten sie zu sich herein. Das Leben erschien bunt und wunderbar. Die türkischen Männer, die sie in Moskau kennen gelernt hatten, berichteten ihnen jeden Abend über den Stand ihrer Verhandlungen mit potenziellen Arbeitgebern. Doch die Tage vergingen, erst fünf, dann zehn, und es geschah nichts. Die Mädchen hatten kein Geld mehr. Am elften Tag teilten die Männer ihnen mit, dass nichts zu machen war, dass sie ihnen keine Stellen besorgen konnten. Die Mädchen könnten als Masseusen in einem Hotel arbeiten, etwas anderes sei für sie nicht aufzutreiben gewesen. Sie hatten keine Wahl, für ein Ticket nach Moskau besaßen sie kein Geld, und so erklärten sie sich einverstanden. Sie hatten seinerzeit beide einen Massagekurs absolviert und sich bei dieser Gelegenheit kennen gelernt. Erst danach hatten sie gemeinsam den Beschluss gefasst, eine Hotelfachschule zu besuchen.
Die Männer brachten sie an einen Ort irgendwo zwischen Side und Manavgat. Nach zwei Tagen lud der Hotelbesitzer, der fließend englisch und deutsch sprach, sie zum Abendessen ein und machte ihnen ein eindeutiges Angebot. Er war nicht böse, als die Mädchen freundlich ablehnten. Ljuba nahm an, dass die Sache damit ein für alle Mal erledigt war. Bis zum Mai kneteten die Mädchen unermüdlich Rücken, Bäuche, Hüften und braun gebrannte Beine, die nach Sonnencreme und nach dem Salz des Mittelmeeres rochen. Im April kamen die meisten Gäste aus Deutschland und Norwegen, ab etwa Mitte Mai begannen die Urlauber aus Russland einzutreffen. Sie ließen sich gern auf Gespräche mit den hübschen Masseusen ein, fragten sie nach den Gepflogenheiten des Hotels und wollen wissen, wie viel die Mädchen hier verdienten. Wenn sie die Antwort hörten, verzogen sie verächtlich die Lippen. Was hatte man davon, ins Ausland zu reisen, um dort für so einen Bettellohn zu arbeiten?
»Dafür sind wir nicht nur zwei Wochen hier wie Sie, sondern für die ganze Urlaubssaison. Und das kostenlos«, erwiderte Ljuba fröhlich.
In Wahrheit war sie natürlich nicht sehr fröhlich, ihre Arbeit war alles andere als ein Urlaubsvergnügen. Der Arbeitstag dauerte von morgens neun bis abends neun, freie Tage gab es nicht. Die Gäste mussten jederzeit die Mög-lichkeit haben, die Dienste der Masseusen in Anspruch zu nehmen. Aber man konnte gut gelaunten Urlaubern schließlich nicht sein Leid klagen. Ljuba ertrug es nicht, wenn man sie bemitleidete und für unglücklich oder erfolglos hielt.
Nach Ablauf eines Monats stand die erste Gehaltszahlung an. Der Hotelbesitzer hatte jeder von ihnen einhundertfünfzig Dollar versprochen. Und da kam der nächste Schlag für Ljuba. Der Hotelbesitzer teilte den Mädchen mit, dass es schlecht um das Hotel stehe, es seien viel weniger Gäste gekommen als erwartet, und die Kasse sei leer. Die Mädchen sollten noch einen weiteren Monat arbeiten, und danach, wenn der Hotelbetrieb wieder besser lief, würden sie ihr Geld für beide Monate auf einmal bekommen.
Die Mädchen machten einen Aufstand, sie schrien, weinten und flehten. Der Hotelbesitzer forderte sie auf, ihn am nächsten Tag wieder aufzusuchen, er würde darüber nachdenken, was zu machen sei.
»Der will uns reinlegen«, sagte Ljuba wütend. »Wir arbeiten noch einen Monat, und dann bezahlt er uns wieder nichts. Er wird uns von Monat zu Monat vertrösten, und so bis zum Nimmerleinstag.«
Mila
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