Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
dessen innerem Laufgang wir bis zu der Treppe folgten, die aufwärts führte. Als wir oben – bei der Statue des Amnectrus – sicheres Terrain erreicht hatten, sagte er: »Ich hatte daran gedacht, Gartenarbeit zu meiner Nebenbeschäftigung zu machen.«
    »Also, wenn man die Unmengen von Unkraut bedenkt, die du im Laufe der Jahre als Buße dafür jäten musstest, dass du mich verprügelt hattest, bist du gut geeignet«, sagte ich. »Aber warum um alles in der Welt solltest du das wollen?«

    »Lass mich dir zeigen, was in der Wiese passiert ist«, sagte er und führte mich zum Felsgesims des Wehrwarts hinaus. Zwei in wuchtige Winterkullen gehüllte Wachmänner, deren Füße von pelzigen Mukluks verschlungen wurden, drehten ihre Runden. Lio und mir war vom Treppensteigen heiß, sodass die Kälte uns nicht viel ausmachte. Wir nahmen uns kurz Zeit, um unsere Kapuzen aufzusetzen. Auf diese Weise zollten wir der Regel Respekt. Die weit vor unsere Gesichter gezogenen Kullen schränkten unser Gesichtsfeld ein. Als wir dann an die Brüstung traten und uns vorbeugten, konnten wir hinunter in den Konzent, aber nicht nach oben und hinaus in die Welt jenseits davon sehen.
    Lio zeigte nach unten auf den hinteren Rand der Wiese. Unmittelbar am jenseitigen Flussufer erhob sich Shufs Dotat. Außer ein paar immergrünen Büschen war da unten alles braun und tot. Man sah sofort, dass der Klee, der einen Großteil der Wiese überzog, zum Ufer hin dünn und fleckig geworden und mit dunklerem, gröberem Zeug durchsetzt war: ganzen Unkrautkolonien, die den sandigen Boden im Uferbereich bevorzugten. Unmittelbar am Fluss konnte ich deutlich einen Streifen sehen, wo der Klee vollständig einem Gewirr aus holzigem Reisig Platz gemacht hatte: Schlitzbeeren und Ähnlichem. Hinter diesem Streifen entdeckte ich Tupfen und sich windende Spuren von Grün; manches von dem Zeug da hinten war so widerstandsfähig, dass nicht einmal strenger Frost es umbringen konnte.
    »Ich vermute, dein Thema heute ist Unkraut. Ich weiß aber nicht, worauf du damit hinauswillst«, sagte ich.
    »Da unten werde ich nächstes Frühjahr eine Neuauflage der Schlacht von Trantae inszenieren«, verkündete er.
    »Minus 1472«, antwortete ich mit roboterartiger Stimme, denn das war eines der Daten, die jedem Fid eingetrichtert wurden. »Und ich nehme an, du möchtest, dass ich die Rolle eines Hopliten spiele, der einen sarthischen Pfeil ins Ohr bekommt? Nein danke!«
    Er schüttelte geduldig den Kopf. »Nicht mit Menschen«, sagte er, »mit Pflanzen.«
    »Wie bitte?«
    »Der Gedanke kam mir während der Apert, als ich sah, wie sich Unkraut und sogar Bäume in der Stadt ausbreiten. Und sie den Menschen so langsam fortnehmen, dass die es gar nicht merken. Die Wiese wird die fruchtbare Ebene von Thrania darstellen, die
Kornkammer des Bazischen Reiches«, sagte Lio. »Der Fluss steht für den Chontus, der sie von den nördlichen Provinzen trennt. Im Jahr minus 1474 waren diese längst an die Pferdeschützen verloren. Nur ein paar befestigte Außenposten hielten der barbarischen Flut noch stand.«
    »Können wir uns vorstellen, dass Shufs Dotat einer davon ist?«
    »Wenn du willst. Es spielt keine Rolle. Jedenfalls überqueren im kalten Winter des Jahres minus 1473 die Horden aus der Steppe unter Führung des sarthischen Clans den zugefrorenen Fluss und errichten Brückenköpfe am thranischen Ufer. Bis die Kriegssaison anbricht, verfügen sie über drei komplette einsatzbereite Armeen. General Oxas setzt in einem Militärputsch den Bazischen Kaiser ab und rückt mit dem Versprechen vor, die Sarthier in den Fluss zu treiben und wie Ratten zu ertränken. Nach wochenlangem Manöver treffen Oxas’ Legionen endlich im Flachland nahe Trantae auf die Sarthier. Die inszenieren einen vorgetäuschten Rückzug. Wie der letzte Trottel fällt Oxas darauf herein und stürmt in eine Zange. Er wird umzingelt …«
    »Und drei Monate später steht Baz in Flammen. Aber wie willst du das alles mit Unkraut bewerkstelligen?«
    »Wir werden den Invasionsspezies vom Flussufer erlauben, feindliche Einfälle in den Klee zu machen. Sternblütenranken stoßen wie leichte Kavallerie über den Boden vor – es ist unglaublich, wie schnell sie sich vorwärtsbewegen. Die Schlitzbeere ist langsamer, hält aber länger stand – wie die Infanterie. Schließlich kommen die Bäume dazu und machen es endgültig. Wenn wir hier und da Pflanzen ausreißen oder zurückschneiden, können wir es genau so ablaufen

Weitere Kostenlose Bücher