Anathem: Roman
kurzer, fröhlicher Aufruhr auf meine Kosten. Wenigstens einmal im Leben machte ich mir keine Sorgen. Wessen konnten sie mich bezichtigen? Verschwörung zum Wachsenlassen von Unkraut? Vermutlich hatten sie missverstanden, was Lio und ich im Schilde führten. Das einzig Schwierige würde sein, es einem Mann wie Spelikon zu erklären.
Die jüngere Hierarchin mit Namen Rotha aß schnell, erhob sich dann und verließ das Refektorium, im Arm eine kleine Tasche voller Papiere, die mit den Bewegungen ihrer Hüften hin und her schwenkte. Spelikon aß herzhafter, wollte allerdings weder Bier noch Wein trinken. Nach ein paar Minuten schob er das Tablett von sich, wischte sich den Mund ab, stand auf und kam zu mir herüber. »Ob ich mich wohl in Saunt Zenlas einen Moment mit dir unterhalten könnte?«, sagte er.
»Sicher«, antwortete ich und schielte dann quer durch den Raum zu Lio, der an einem anderen Tisch zu Abend aß. »Möchtest du, dass Fraa Lio dabei ist, oder …«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Spelikon. Was mir seltsam vorkam und körperliche Angstsymptome – Herzklopfen, feuchte Hände – bei mir hervorrief, als ich Spelikon um das Klostrum herum zu Saunt Zenlas folgte.
Das war einer der kleinsten und ältesten Schreibsäle, der traditionellerweise von den ältesten edharischen Theorikern benutzt wurde, um sich untereinander auszutauschen oder ihre älteren Studenten zu unterrichten. Ich war in meinem ganzen Leben erst ein paar Mal in dem Raum gewesen und hätte es nie gewagt, da hineinzuplatzen und ihn auf diese Weise in Beschlag zu nehmen. Er hatte einen kleinen Tisch, der so groß war, dass mindestens vier Personen auf ihren Sphärs an ihm Platz hatten. Rotha hatte den Tisch bereits mit verschiedenen Dingen bedeckt: einer Konstellation von Leuchtknospen, deren weiche Lichtkreise verschmolzen, um einen Stapel leere Blätter und ein paar Manuskripte oder Auszüge davon zu beleuchten. Neben einem geöffneten Tintenfässchen lagen ordentlich aufgereiht mehrere Schreibfedern.
»Befragung von Fraa Erasmas vom edharischen Kapitel im Dezenariermath des Konzents von Saunt Edhar«, sagte Spelikon. Rotha kritzelte eine Reihe von Zeichen auf ein leeres Blatt – nicht die üblichen bazischen Buchstaben, sondern eine Art Kurzschrift, die Hierarchen für das Erstellen von Protokollen beigebracht wurde. Als Nächstes nannte Spelikon Ort und Zeit. Ich war fasziniert von Rothas Geschick mit der Feder – innerhalb eines Atemzugs glitt ihre Hand über die ganze Breite des Blattes und hinterließ eine Reihe einfacher Einstrichglyphen, die, wie mir schien, unmöglich so viel Bedeutung transportieren konnten wie die Worte, die wir sprachen.
Meine Augen wanderten zu den anderen Manuskripten, die Rotha auf dem Tisch ausgelegt hatte. Die meisten davon waren ebenfalls in dieser Kurzschrift geschrieben. Wenigstens eins war jedoch in herkömmlicher Schrift verfasst. Meiner Schrift. Als ich mich etwas vorbeugte, konnte ich verschiedene Wörter ausmachen. Ich erkannte es als das Tagebuch, das ich in der Bußzelle im Mynster zu führen begonnen hatte, und sah die Namen Flec und Quin und Orolo.
Meine Bewegungen waren ruckartig geworden. Ein primitiver Bedrohungsreaktionsmechanismus hatte die Führung übernommen. »He, das gehört mir!«
Spelikon sorgte dafür, dass das aufgeschrieben wurde. »Das Subjekt gibt zu, dass Dokument Nummer elf ihm gehört.«
»Woher habt ihr das?«, fragte ich, wobei ich nicht älter klang als Barb. Rothas Hand flitzte über das Blatt, um das zu verewigen.
»Von da, wo es war «, antwortete Spelikon belustigt. »Du weißt doch, wo dein eigenes Tagebuch sich befindet, oder?«
»Ich dachte , ich wüsste es.« In einer der Nischen vor dem Saunt-Grod-Schreibsaal, ganz oben, wo nur ein paar Leute hinkamen. Die Blätter von jemand anderem aus einer Nische zu nehmen, war jedoch so ungefähr das Unverschämteste, was ein Avot tun konnte. Vertretbar war es nur, wenn die Person gestorben oder verstoßen worden war. »Aber«, fuhr ich fort, »ihr dürft nicht …«
»Warum lässt du nicht mich entscheiden, was wir dürfen und was nicht«, sagte Spelikon. Während er diese Worte sprach, ließ er durch eine Geste Rothas Hand erstarren, damit nichts davon aufgeschrieben würde. Dann machte er eine andere Geste, die diesen Bann aufhob, worauf sie wieder anfing zu schreiben. »Diese Befragung betrifft dich nicht direkt und braucht eigentlich gar nicht viel von deiner Zeit zu beanspruchen. Das meiste von
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