Anathem: Roman
zitternden Luftsack blies. Aber der Ton war regelmäßig. Wie ein Muster. Vielleicht das Brummen eines Generators. Eine Bewässerungspumpe unten im Tal. Die Luftdruckbremsen von Tromms, die eine abschüssige Straße hinunterfuhren.
Neugier und eine volle Blase hielten mich wach. Schließlich stand ich auf, bewegte mich leise, um Lio nicht zu stören, und zog an meinem Laken. Aus Gewohnheit wollte ich es um mich wickeln. Dann zögerte ich, denn mir fiel ein, dass ich extramurische Kleidung tragen sollte. In der Finsternis vor Morgengrauen konnte ich den Haufen aus Hose, Unterwäsche und Ähnlichem, den ich am Abend zuvor auf dem Boden hatte liegen lassen, nicht einmal sehen. Deshalb kehrte ich zu Plan A zurück, zog das Laken vom Bett ab, wand es um mich und ging hinaus.
Der Ton schien gleichzeitig von überall her zu kommen, doch nachdem ich die Latrine benutzt hatte und wieder in die kühle Morgenluft getreten war, dämmerte mir allmählich, woher er kam: von einer steinernen Stützmauer, die die Mönche entlang eines steilen Bergabschnitts gebaut hatten, um zu verhindern, dass ihre Straße ins Tal hinabstürzte. Als ich auf sie zuging, wurden meine Wahrnehmungen plötzlich ganz klar, und ich schüttelte den Kopf vor lauter Verwunderung über meine eigene Dummheit, eine Amphibie oder einen Tromm für den Urheber des Tons gehalten zu haben. Es war eindeutig eine menschliche Stimme. Die sang. Oder besser einen Bordunton summte, denn seit ich aufgewacht war, hatte sie auf derselben Note verharrt.
Die Note veränderte sich leicht. Gut, dann war es kein Bordunton. Es war ein Gesang. Ein sehr, sehr langsamer.
Da ich nicht einfach zu Fraa Jad hingehen und ihn stören wollte, manövrierte ich so lange auf dem weichen, feuchten Gras der zu dem Einkehrzentrum gehörenden Bogenschießanlage herum, bis
ich ihn aus einer Entfernung von einigen hundert Fuß betrachten konnte. Die Stützmauer verlief in geraden Segmenten, die durch runde, oben abgeflachte Türme von etwa vier Fuß Durchmesser verbunden waren. Fraa Jad hatte die Kulle aus seinem Gepäck geholt, zu winterlicher Dicke aufgebauscht und angezogen; dann war er auf einen Pfeiler gestiegen, der eine gute Aussicht nach Süden über die Wüste hinweg bot. Dort saß er, die Beine im Schneidersitz und die Arme ausgestreckt. Links von ihm war der Himmel leuchtend purpurrot, von Sternen gereinigt. Rechts funkelten noch ein paar helle Sterne und ein Planet, die sich dem aufkommenden Tageslicht widersetzten, bis sie mit zunehmender Zeit einer nach dem anderen unterlagen.
Ich hätte stundenlang dort stehen und zuhören können. Mir kam der Gedanke – vielleicht nur ein Ausdruck meiner Phantasie -, dass Fraa Jad einen kosmographischen Gesang angestimmt hatte: ein Requiem für die Sterne, die vom Morgengrauen verschluckt wurden. Auf jeden Fall war es Musik von kosmographischer Langsamkeit. Manche der Töne dauerten länger, als ich meinen Atem anhalten konnte. Er musste irgendeinen Trick beherrschen, der ihm erlaubte, gleichzeitig zu singen und zu atmen.
Eine einzelne Glocke läutete hinter und über mir im Mönchskloster. Die Stimme eines Priesters sang ein Bittgebet in Altorth. Ein Chor antwortete ihm. Es war ein Anrufung-der-Dämmerung-Aut oder so etwas. Ich war geknickt darüber, dass ihre Rituale auf Fraa Jads Gesang herumtrampelten. Allerdings musste ich zugeben, dass Cord, wenn sie wach gewesen wäre, nur mit Mühe einen Unterschied zwischen beidem empfunden hätte. Was immer Fraa Jad da sang, hatte seine Wurzeln, so viel wusste ich, in der theorischen Forschung über Tausende von Jahren, untrennbar verbunden mit einer ebenso alten und starken musikalischen Tradition. Aber warum bezog er überhaupt Theorik in die Musik ein? Und warum blieb er die ganze Nacht wach, saß an einem so schönen Platz und sang diese Musik? Es gab einfachere Wege, zwei und zwei zusammenzuzählen.
Seit jenen ereignisreichen Tagen sechs Jahre zuvor, als ich die Stufen vom Sopran heruntergefallen war, hatte ich Bass gesungen. Dort, wo ich lebte, bedeutete das jede Menge Borduntöne. Wenn man drei Stunden mit dem Singen ein und derselben Note verbringt, geschieht etwas mit dem Gehirn. Und das gilt doppelt, wenn
man mit den anderen um einen herum in einen Schwingungsgleichschritt gefallen ist und wenn alle gemeinsam es geschafft haben, ihre Stimmbänder auf die natürliche Harmonik des Mynsters (ganz zu schweigen von den zu Tausenden an dessen Wänden gestapelten Fässern) einzustimmen. Ich
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