Anathem: Roman
wir einige hundert Fuß schnurgerade bergauf kletterten.
»Hast du Fraa Paphlagon gekannt?«, fragte ich Kriskan, als wir
am Ende der Abkürzung anhielten, um Wasser zu trinken und über unser schnelles Fortkommen zu staunen. Die Aussicht war es wert, ein paar Minuten zu verweilen.
»Ich war sein Fid«, sagte Kriskan. »Und du Orolos?«
Ich nickte. »Ist dir bewusst, dass Orolo ein Fid von Paphlagon war, bevor Paphlagon durch das Labyrinth zu euch kam?«
Fraa Kriskan schwieg. Für Paphlagon wäre es eine Verletzung der Regel gewesen, hätte er Kriskan gegenüber Orolo – oder irgendetwas von seinem früheren Leben unter den Zehnern – erwähnt. Allerdings gehörte das zu den Dingen, die leicht durchsickerten, wenn man über seine Arbeit sprach. Ich fuhr fort: »Paphlagon und ein anderer Zehner namens Estemard haben zusammengearbeitet und Orolo erzogen. Sie gingen zur selben Zeit: Paphlagon durch das Labyrinth und Estemard durch das Tagestor. Estemard kam hierher.«
Kriskan fragte: »Wie war Orolos Ruf? Vor seinem Anathem, meine ich.«
»Er war unser Bester«, sagte ich, erstaunt über die Frage. »Warum? Wie war Paphlagons Ruf?«
»Ähnlich.«
»Aber …?« Ich wusste nämlich, dass ein »aber« folgen würde.
»Seine Nebenbeschäftigung war etwas merkwürdig. Statt wie die meisten Leute etwas mit den Händen zu tun, machte er sich ein Hobby aus dem Studium …«
»Das wissen wir«, sagte ich. »Des Polykosmos. Und/oder der Hyläischen Theorischen Welt.«
»Ihr habt euch seine Schriften angeschaut«, sagte Kriskan.
»Zwanzig Jahre alte Schriften«, erinnerte ich ihn. »Wir haben keine Ahnung, mit was er sich zur Zeit beschäftigt.«
Kriskan schwieg eine Weile, dann zuckte er die Achseln. »Für die Konvox scheint es von größter Bedeutung zu sein, deshalb nehme ich an, es ist in Ordnung, wenn ich mit euch darüber spreche.«
»Wir werden dich nicht verraten«, versprach ihm Lio.
Die Komik ging an Kriskan vorbei. »Ist euch schon einmal aufgefallen, dass Leute, wenn sie über die Idee der Hyläischen Theorischen Welt sprechen, am Ende immer dasselbe Diagramm zeichnen?«
»Stimmt – jetzt, wo du’s sagst«, bestätigte ich.
»Zwei Kreise oder Kästen«, sagte Lio. »Einen Pfeil von einem zum anderen.«
»Ein Kreis oder Kasten steht für die Hyläische Theorische Welt«, sagte ich. »Von dort aus zeigt der Pfeil auf den anderen, der diese Welt darstellt.«
»Diesen Kosmos«, berichtigte mich Kriskan. »Oder kausalen Bereich, wenn du willst. Und der Pfeil steht für …?«
»Einen Informationsfluss«, sagte Lio. »Wissen über Dreiecke, das in unsere Gehirne strömt.«
»Ursache-Wirkungs-Beziehung«, war meine Vermutung. Ich erinnerte mich an Orolos Rede von der Kausaler-Bereich-Scherung.
»Beide laufen auf dasselbe hinaus«, erinnerte uns Kriskan. »Ein solches Schaubild ist eine Behauptung, dass Informationen über theorische Formen aus der HTW in unseren Kosmos gelangen und hier messbare Wirkungen erzielen können.«
»Moment mal, messbar ? Von was für einer Messbarkeit sprichst du?«, fragte Lio. »Ein Dreieck kann man nicht messen. Mit dem Adrakhonischen Lehrsatz kann man keinen Nagel einschlagen.«
»Aber du kannst über solche Dinge nachdenken«, sagte Kriskan, »und Denken ist ein physikalischer Vorgang, der sich in deinem Nervengewebe abspielt.«
»In das man Sonden hineinstecken kann, um den Vorgang zu messen«, sagte ich.
»So ist es«, bestätigte Kriskan, »und die ganze Prämisse des Protismus besagt, dass diese Gehirnsonden andere Ergebnisse zeigen würden, wenn es diesen Informationsfluss aus der Hyläischen Theorischen Welt nicht gäbe.«
»Das wird wohl so sein«, räumte Lio ein, »aber wenn du es so formulierst, klingt es ziemlich vage.«
»Mach dir darüber erst mal keine Gedanken«, sagte Kriskan. Wir befanden uns gerade an einem steilen Straßenstück, wo wir nur schwer atmend und schwitzend vorwärts kamen, während die Sonne auf uns herabschien, und er wollte nicht viel Energie darauf verwenden. »Kommen wir noch einmal auf das Zwei-Kästen-Diagramm zurück. Paphlagon gehörte zu einer Tradition, die sich auf eine gewisse Suur Uthentine im Konzent Saunt Baritoe im vierzehnten Jahrhundert A. R. beruft und die fragt: ›Warum nur zwei?‹ Angeblich fing alles damit an, dass Uthentine in einen Schreibsaal kam und zufällig das herkömmliche Zwei-Kästen-Diagramm sah, das ein gewisser Fraa Erasmas auf eine Schiefertafel gezeichnet hatte.«
Lio drehte sich um und
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