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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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immer noch wolkenbedeckt. Obwohl wir an einem Berghang angehalten hatten, standen wir auf einer einigermaßen ebenen Fläche – irgendeiner Schlittenspur, mutmaßte ich, die genau über den Pass ging, für den unser Fahrer sich entschieden hatte.
    Brajj zeigte kein Interesse daran, auszusteigen. Ich stand auf und tat, als wollte ich über seine ausgestreckten Beine klettern, aber er nahm eine Hand hoch, um mich zurückzuhalten. Einen Moment später hörten wir von der Schlittenzugmaschine her eine Reihe dumpfer Schläge, gefolgt von einem berstenden, knackenden Geräusch, als ihre Tür durch eine Schicht Eis hindurch aufgestoßen wurde. Brajj ließ seine Hand sinken und zog die Beine an: Ich durfte gehen. Erst jetzt erinnerte ich mich an Sammanns Warnung, die
Füße nicht auf den Boden zu setzen, um nicht allein zurückzubleiben. Brajj, der das schon einmal gemacht zu haben schien, wusste, dass es unvorsichtig war, auszusteigen, bevor der Fahrer die Zugmaschine verlassen hatte.
    Auf dreiundachtzig hatten wir uns mit Schneebrillen ausgestattet. Nachdem ich sie mir über die Augen gezogen hatte und von dem Schlitten gestiegen war, sah ich einen unbekannten Mann im Schnee neben der Zugmaschine stehen und an die Bergseite urinieren. Daraus schloss ich, dass es in dem Fahrzeug eine Schlafkoje geben musste und die beiden Fahrer sich abwechselten. Tatsächlich steckte dann auch der erste Fahrer sein verschlafenes Gesicht durch die Tür, zog sich die Schneebrille an und kletterte heraus, um sich zu dem anderen zu gesellen. Die Tür ließen sie offen, anscheinend, um den Funkverkehr verfolgen zu können. Der kam, eigenartig moduliert, in seltenen Impulsen durch. Aus dem, was ich verstand, konnte ich folgern, dass hier Schlittenzugfahrer Informationen über die Bedingungen auf den Pässen sowie ihre jeweiligen Standorte austauschten. Allerdings schien nur sehr wenig durchzudringen. Sobald ein Funkspruch aus dem Lautsprecher rauschte, unterbrachen die beiden Fahrer ihre Unterhaltung, wandten sich der offenen Tür zu und strengten sich an, ihm zu folgen.
    Laro und Dag stiegen aus dem Schlitten und gingen um ihn herum auf die Talseite. Ich hörte beide aufschreien, dann aufgeregt miteinander reden. Die Fahrer schauten verärgert drein, denn das machte es noch schwieriger, die verzerrt an ihr Ohr dringenden Funksprüche zu verfolgen.
    Ich ging auf die andere Seite.Von hier aus hatten wir einen herrlichen Blick über einen Berghang, dessen Schneedecke hier und da durch schwarze Felsspitzen unterbrochen wurde, hinunter in ein u-förmiges Tal. Wir befanden uns auf dessen Nordseite. Zu unserer Rechten, wo es in den Küstenstreifen überging, weitete und verflachte es sich. Links von uns wurde es steiler, da es zu weißen Bergen hin anstieg. Wir hatten es also über die Küstengebirgskette geschafft und waren nun bergab unterwegs zu den zugefrorenen Häfen.
    Das war aber nicht der Grund für Laros und Dags Aufschreie gewesen. Ihr Blick war auf eine schwarze Schlange gerichtet, die sich, zehn Meilen lang und in Dampf gehüllt, das Tal in Richtung Berge hinaufwand: ein Konvoi aus schweren Fahrzeugen, Stoßstange an Stoßstange. Alle in derselben Farbe.

    »Militär«, verkündete Brajj, während er aus dem Schlitten stieg. Verwundert schüttelte er den Kopf. »Man könnte meinen, es gäbe Krieg.«
    »Ein Manöver?«, mutmaßte Laro.
    »Ein großes«, sagte Brajj in skeptischem Ton. »Falsche Ausrüstung.« Er sprach mit einer solchen Mischung aus Autorität und Spott, dass ich vermutete, er müsse ein pensionierter Militärangehöriger sein – oder ein Deserteur. Er schüttelte den Kopf. »Die Spitze bildet eine Gebirgsdivision«, sagte er und zeigte auf den Anfang der Kolonne, die, wie ich jetzt bemerkte, aus einer großen Anzahl weißer Gleiskettenfahrzeuge bestand. »Die dahinter sind alle Flachländer.« Den ausgestreckten Finger auf den ersten der dunklen Tromms gerichtet, zerteilte er mit der Hand die Luft und strich dann talabwärts, um das Ende der Kolonne mit einzubeziehen, und weiter auf das zugefrorene Meer zu, das von hier aus als weiße, von blauen Rissen durchzogene unebene Hochfläche zu sehen war. Ein gelbbrauner Fleck markierte den Hafen, den wir zu erreichen versuchten. Von einem Eisbrecher war eine schwarze Fahrrinne freigeräumt worden, die jedoch schon wieder verblasste, da das Eis dahinter hereindrängte.
    Ich war weder Praxiker noch Ita, hatte aber als Kind genug Spulos gesehen und von Sammann genug gehört, um

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