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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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sicheren Ort erreichten sie nur mit mehr Treibstoff. Wenn sie uns auf ihre Betteltour mitnähmen, wäre offensichtlich, dass sie Schmuggler waren, und sie würden in Schwierigkeiten geraten. Deshalb mussten sie uns für eine Weile parken. Da sie wussten, dass wir dagegen protestiert hätten, hatten sie uns keine Wahl gelassen.
    Brajj hatte mich eingeholt. Von irgendwoher hatte er eine kleine Waffe hergezaubert. Doch ihm war ebenso klar wie mir, dass es keinen Zweck hatte, aufs Geratewohl hinten auf den Schlepper zu schießen. Nur er und die beiden Männer darin konnten uns von hier fortbringen.
     
    Als Brajj und ich mit dem Treibstoff und den Energieriegeln beladen wieder in den Schlitten stiegen, trafen wir Laro und Dag voreinander kniend an; sie hielten sich gegenseitig an den Händen und murmelten so schnell, dass ich kein einziges Wort verstehen konnte. Ein solches Verhalten hatte ich noch nie gesehen und musste sie erst eine Weile beobachten, ehe ich zu dem Schluss kam, dass sie beteten. Dann wurde ich verlegen. Ich trat zurück, um Brajj Platz zu machen, falls er sich zu ihnen gesellen wollte, aber der Blick, mit dem er die Deolatisten bedachte, verriet Verachtung. Er zog meine Aufmerksamkeit auf sich und machte eine ruckartige Kopfbewegung
nach hinten zu den Zeltklappen. Ich begab mich zu ihm nach draußen. Wir trugen beide Kapuzen und Sonnenbrillen und waren gegen die Kälte warm eingehüllt. Während wir uns unterhielten, konnten wir mit ansehen, wie sich auf unseren Gesichtsmasken Frost bildete.
    Seit wir verlassen worden waren, hatte Brajj alle fünf Minuten auf die Uhr geschaut. »Jetzt ist eine Viertelstunde um«, sagte er. »Falls diese Burschen nicht in zwei Stunden wieder hier sind, um uns abzuholen, müssen wir uns selbst retten.«
    »Glaubst du wirklich, sie lassen uns hier sterben?«
    Statt diese Frage direkt zu beantworten, sagte Brajj: »Sie könnten in eine Situation geraten, in der sie keine Wahl haben. Vielleicht bekommen sie keinen Treibstoff. Vielleicht bleibt ihr Schlepper liegen. Oder das Militär beschlagnahmt ihn. Tatsache ist, dass wir unseren eigenen Plan haben müssen.«
    »Ich habe ein Paar Schneeschuhe …«
    »Ich weiß. Wir müssen drei weitere machen. Füll deinen Wasserbeutel auf.«
    Die Anzugsäcke hatten vorne Beutel, die mit Schnee vollgestopft werden konnten. Der schmolz mit der Zeit und wurde zu Trinkwasser. Das verbrauchte Energie, was aber vertretbar war, solange der Körper Nahrung oder der Anzugsack Treibstoff hatte. Wir hatten beides – fürs Erste. Wir packten so viel Schnee in unsere Beutel, wie wir konnten. Die Treibstoffblasen füllten wir aus dem Behälter auf, den die Fahrer uns dagelassen hatten. Brajj unterbrach die Gebete der anderen und bestand darauf, dass sie sich auch mit Wasser und Treibstoff versorgten. Dann ließ er jeden von uns zwei Energieriegel essen. Erst dann machten wir uns an die Arbeit.
    Das Zelt wurde von flexiblen Metallstangen gehalten. Wir brachen es ab und zogen sie heraus. Das hatte den Nebeneffekt, dass wir Laros und Dags Aufmerksamkeit auf uns zogen. Unser Schutzdach war weg; jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich unserem Plan anzuschließen. Brajj hatte ein Taschenwerkzeug mit einer kleinen Säge; er machte sich daran, die Zeltstangen in kleinere Stücke zu sägen. Als die anderen erst einmal sahen, dass es etwas zu tun gab, beteiligten sie sich mit Freuden daran. Dag, der kräftigere der beiden, übernahm das Zersägen der Zeltstangen. Brajj wies Laro an, alles, was wir an Schnur und Faden zur Verfügung hatten, zusammenzusuchen. Dann schnürte er – vielleicht, um mit
gutem Beispiel voranzugehen – das gelbe Seil auf, mit dem er seinen Koffer zugebunden hatte. Das erwies sich als ungefähr dreißig Fuß lang. Er öffnete die Schnappverschlüsse und kippte seinen Inhalt aus: Hunderte winziger Ampullen, alle in lose Schaumklümpchen gepackt. Solche Dinger hatte ich noch nie gesehen, vermutete aber, dass es Arzneimittel waren. »Kindesunterhalt«, erklärte Brajj als Antwort auf meinen Blick.
    Vorder- und Rückwand des Koffers bestanden aus einem festen lederartigen Material, das wir für die Flächen der Schneeschuhe zu Platten schnitten. Wir verbogen die Zeltstangen, um daraus grobe, viereckige Rahmen zu machen, an denen wir mithilfe der Schnur von Laros und Dags improvisiertem Gepäck die Kofferwände festbanden. Das dauerte eine Weile, da wir mit bloßen Fingern arbeiten mussten, die nach wenigen Minuten taub wurden.

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