Anathem: Roman
»Stecher« mochte als Anker in einer Krise dienen – genauso gut konnte er es aber auch benutzen, um sich loszuschneiden, wenn einer von uns abstürzte. Was sollte ich in einem solchen Fall tun?
Doch es hatte keinen Sinn. Brajj hatte sich zum Anführer gemacht und bisher durchaus vernünftige Entscheidungen getroffen. Ich konnte unendlich viel Zeit und Energie darauf verwenden, mir solche beängstigenden Phantasien im Kopf zurechtzulegen. Besser war es, mich um das Hier und Jetzt zu kümmern.
Oder war es das Allesgut, das da sprach?
Die ersten paar Stunden gingen wir in den verdichteten Kettenspuren des Schleppers, bis diese einen Schwenk bergab machten und einem Kar – einem halbmondförmigen, von einem Nebengletscher ausgeschnittenen Tal – zum Grund des eigentlichen Tals hinunter folgten. Das würde uns auf direktem Weg zu dem Militärkonvoi bringen, und deshalb trennten wir uns hier von der Spur und wagten uns zum ersten Mal auf jungfräulichen Schnee. Am Anfang kamen wir langsam voran, da wir uns aus dem Kar hinaus aufwärts arbeiten mussten. Als der Hang allmählich wieder ebener wurde, war ich bereit, »die Reißleine zu ziehen«, wie Brajj es formuliert hatte. Was konnte mir schlimmstenfalls passieren, wenn ich mich einem Militärtrommfahrer auf Gnade oder Ungnade auslieferte? Ich hatte gegen kein Gesetz verstoßen. Es waren nur meine Gefährten, die solch lächerliche Anstrengungen unternehmen mussten, um sich der Aufmerksamkeit der Behörden zu entziehen. Aber ich war auf Gedeih und Verderb an sie gebunden und konnte mich nicht losschneiden, ohne ihr und mein Leben in Gefahr zu bringen; ich musste warten, bis sie die Reißleine zogen.
Dann überquerten wir einen Nebenkamm, und die Küste kam in Sicht. Ich war erstaunt darüber, wie nah sie war. Wir mussten an Höhe verlieren, aber die horizontale Entfernung sah nicht so groß aus. Wir konnten mühelos einzelne Gebäude am Hafen erkennen und die Militärtransportschiffe zählen, die an seinen Molen festgemacht hatten. Militärische Luftfahrzeuge standen aufgereiht am
Rand einer schmutzigen Landebahn, die zwischen der Küste und dem Fuß der Berge eingezwängt war. Wir sahen zu, wie eins abhob und den Kurvenflug nach Süden einleitete.
Ein oder zwei zivile Schiffe lagen auch im Hafen, und das brachte uns alle auf den Gedanken, dass wir, wenn wir es nur schafften, in einem Stück – und es sah nach weniger als einem Tagesmarsch aus – dort hinunterzugelangen, eine Fahrt auf einem davon buchen und hinter dem nächsten Eisbrecher von hier wegkommen könnten. Also machten wir oben Rast, als Vorbereitung auf die letzte Etappe, von der wir alle wussten, dass sie lang und beschwerlich werden würde. Ich zwang mich, noch zwei Energieriegel zu essen. Von den Dingern wurde mir allmählich übel, aber vielleicht waren es auch nur meine Bedenken wegen des Allesguts. Ich spülte sie mit Wasser hinunter und füllte meine Schneebeutel und meine Treibstoffblase wieder auf. Die Schlittenzugfahrer hatten uns viel davon gegeben – vielleicht in dem Gedanken, dass sie eine ganze Weile nicht zurückkommen würden. Ich war froh, dass wir etwas unternommen – uns in Bewegung gesetzt hatten, statt uns in diesem Zelt zusammenzudrängen und nicht zu wissen, ob wir leben oder sterben würden.
Nach einer einstündigen Rast packten wir den Transportschlitten und machten uns wieder auf den Weg. Wir stiegen in eine am Grund abgerundete Mulde hinab: ein weiteres Kar, das quer zu unserem Weg lag und einen Bogen zum Hafen hin zu beschreiben schien. Brajj beschloss, ihm nach unten zu folgen. Die Gefahr bestand darin, dass es zu steile Passagen aufweisen könnte, die zu bewältigen wir nicht imstande wären, und wir dann den Rückweg würden antreten müssen. Ein paar Mal wurde ich deswegen in den nächsten zwei Stunden nervös, aber dann kamen wir um eine Biegung oder erklommen eine kleine Anhöhe, von wo aus wir ungefähr die nächste Meile überblicken und sehen konnten, dass es nichts gab, womit wir nicht fertig würden. An steileren Stellen versuchte der Transportschlitten, mich zu überholen, und dann hatte ich eine Zeitlang alle Hände voll zu tun – das Einzige, was half, war, ihn um mich herum vor mich zu schwenken und mich bergab ziehen zu lassen, während ich mein ganzes Gewicht dagegenstemmte. In solchen Momenten waren die anderen, die sich nicht mit einem solchen Ballast abgeben mussten, mir weit voraus. Das Seil, das mich mit Laro verband, straffte sich und ließ
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