Anathem: Roman
heftiger Ruck an meiner Taille sagte mir, dass der Transportschlitten gerade über die Kante gesaust war. Ich hob das Gesicht aus dieser Minilawine und hatte plötzlich die seltsame Vorstellung, mich eigentlich gar nicht zu bewegen – natürlich, weil der Schnee um mich herum sich mit derselben Geschwindigkeit bewegte wie ich. Dann war nichts mehr unter meinen Zehen. Nichts unter meinen Knöcheln. Nichts unter meinen Knien. Meinen Hüften. Mit dem Gewicht von drei Männern riss das Seil mich geradewegs
nach unten. Vermutlich hatte ich eine Art Flickflack in die Gletscherspalte vollführt. Dem Schrecken des freien Falls war ich jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde ausgesetzt, bevor meinem Rücken etwas Schreckliches passierte und ich stecken blieb. Die Kraft des Seils zog mich gegen etwas Unbewegliches und Hartes hinunter. Loser Schnee fiel noch eine Weile auf mich herab. Ich erinnerte mich an eine verworrene Geschichte, anhand deren Yul mir erklärt hatte, wie wichtig es sei, wenn man in eine Lawine geriet, Schwimmbewegungen zu machen und sich einen Luftraum vor dem Gesicht zu bewahren. Schwimmen konnte ich nicht, aber ich bekam tatsächlich einen Arm hoch und hielt den Ellbogen gebeugt über Mund und Nase. Das Gewicht des Schnees, das auf mir lastete, wuchs stetig an, die Spannung in dem Seil ließ nach. Der größte Teil der Lawine schien sich um mich herum zu lösen – zu beiden Seiten abzufallen -, während ich blieb, wo ich war.
Aus irgendeinem Grund hörte ich Jesry in meinem Kopf sagen: »Ach so, du warst also nur ein kleines bisschen lebendig begraben.« Was für ein Idiot!
Dann hörte es auf. Ich konnte mein Herz schlagen hören, und sonst nichts.
Ich stemmte meinen Ellbogen nach außen. Der Schnee bewegte sich etwas und schuf einen Hohlraum vor meinem Gesicht – Luft für einen Moment. Wichtiger noch, ich wurde vor Panik bewahrt und konnte die Augen öffnen. Es herrschte ein schwaches, blaugraues Licht. »Gerade genug zum Lesen!«, hörte ich Arsibalt sagen, und Lios Antwort: »Wenn du nur daran gedacht hättest, ein Buch mitzunehmen.«
Ich stürzte, aus welchem Grund auch immer, nicht tiefer in die Gletscherspalte hinab. Noch nicht. Außerdem hatte ich den Eindruck, nicht allzu weit hineingefallen zu sein. Irgendetwas hatte meinen Sturz gebremst. Ich vermutete, dass der Transportschlitten quer zwischen den Wänden der Gletscherspalte stecken geblieben und ich auf ihn gefallen war. Hart. Ich bewegte erst einmal eine Weile meine Zehen und Knöchel, nur um mich zu vergewissern, dass ich mir nicht die Wirbelsäule gebrochen hatte. Gerne hätte ich sie mit den Händen untersucht, aber ein Arm war seitlich an meinen Körper geklemmt und der andere, dessen Ellbogen ich mir vors Gesicht gehalten hatte, war von Schnee umgeben. Dennoch gelang es mir, ihn vor meinem Körper nach unten zu bewegen. Ich fand
den Reißverschlussschieber an meiner Fronttasche und öffnete ihn Zoll für Zoll. Dann hob ich diese Hand ans Gesicht und zog mir mit den Zähnen den Fäustling aus. Mit der nackten Hand griff ich in die offene Tasche und angelte meine Sphär heraus.
Sphärs haben keine Steuerung im eigentlichen Sinne. Sie erkennen Gesten. Man spricht mit den Händen zu ihnen. Obwohl meine Hand ein bisschen steif war, konnte ich die Geste des Losschraubens machen, die die Sphär zum Größerwerden veranlasste. Nach einer Weile wurde das etwas unheimlich, weil die Sphär mir Luft wegnahm, indem sie den Hohlraum vor meinem Gesicht beanspruchte und Druck auf meine Brust ausübte. Ich hatte aber die Vorstellung, dass der Schnee über mir nicht so tief war. Deshalb befahl ich ihr weiterhin, sich auszudehnen. Und gerade, als ich dachte, meine eigene Sphär würde mich zu Tode quetschen, hörte ich ein Rauschen – eine kleine Lawine. Ich kehrte die Geste um. Die Sphär schrumpfte, das Gewicht verschwand, und ich stellte fest, dass ich zwischen Wänden aus blauem Eis den Blick durch klare Luft hindurch nach oben richten konnte. Der Himmel war sichtbar. Ebenso wie Brajj, der am Rand der Gletscherspalte stand und auf mich herabschaute. Ich war ungefähr zwanzig Fuß tief gefallen.
»Du bist ein Avot« war das Erste, was er zu mir sagte.
»Ja.«
»Hast du sonst noch was in deiner Trickkiste? Ich habe nämlich kein Seil. Es ist alles mit diesen beiden Gheeths abwärts gegangen.« Er klopfte mit der flachen Hand auf das gelbe Seil um seine Taille. Nur ungefähr ein Fuß baumelte noch unterhalb des Knotens. Es war genau an der
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