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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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flach werden.
    Die Sphär ist eine poröse Membran. Jede Pore ist eine kleine Pumpe, die Luft ein- und auspumpt. Wie ein Ballon, der sich selbst aufbläst. Die Federkonstante – die Elastizität – der Membran ist steuerbar. Wenn man die Elastizität ganz reduziert (die Membran also steif macht) und viel Luft hineinpumpt, wird die Sphär eine harte kleine Pille. Was ich jetzt tat, war genau das Gegenteil. Ich machte sie sehr elastisch und ließ einen Großteil der Luft ab. Meine Kulle breitete ich flach auf dem Schnee aus und zerrte die schlaffe Sphär darauf. Mit Brajjs widerstrebender Hilfe rollte ich Laro in die Mitte davon. Während wir das taten, heulte und schrie er nach seiner Mutter und seinem Gott. Das nahm ich als gutes Zeichen, denn jetzt schien er munterer zu sein. Ich rollte ihn in die Sphär ein und wickelte dann die Kulle lose darum, wobei ich nur den Kopf frei ließ. Das ganze Bündel zurrte ich mit meiner Kord fest. Schließlich ließ ich die Sphär leicht anschwellen, gab der Kulle jedoch kein Zeichen, größer zu werden. Die Sphär dehnte sich zu einem Luftbett aus, in dem Laros ganzer Körper wie in einem Kokon lag. Das Bündel
war zwischen zwei und drei Fuß im Durchmesser und glitt ganz passabel über den Schnee, da ich die Kulle dünn und glatt gemacht hatte. Ich hätte es niemals einen Hang hinaufziehen können, aber bergab musste es eigentlich klappen.
    Ich seilte Laro an und Brajj den Transportschlitten. Wir beide banden uns mit einem Stück von dem guten Seil aneinander, das vorher mich und Laro verbunden hatte, und marschierten auf dieselbe Weise los wie vorher: Brajj ging voraus und tastete mit seiner Zeltstange nach Gletscherspalten.
    Ich bemühte mich, nicht über die Möglichkeit nachzudenken, dass Dag auf dem Grund der Spalte noch am Leben sein könnte.
    Dann versuchte ich, mir keine Gedanken darüber zu machen, wie viele andere Flüchtlingsleichen man wohl über dieses Gebiet verstreut finden würde, wenn Eis und Schnee hier jemals wegschmelzen sollten.
    Und schließlich verdrängte ich nach Kräften die Frage, ob Orolos darunter sein könnte.
    Für den Augenblick würde ich mich allerdings damit zufriedengeben müssen, aufzupassen, dass ich nicht darunter sein würde. Ich achtete ganz genau auf Brajjs Fußspuren. Falls Brajj in eine weitere Gletscherspalte rutschte, würde ich vielleicht versuchen, ihn zu retten – weshalb er mich am Leben gelassen hatte. Wenn ich dagegen hineinfiel, wären Laro und ich beide tot. Deshalb trat ich an dieselben Stellen wie er.
    Nach ein paar Stunden verlor ich die Übersicht über das, was geschah. Mit allem, was ich besaß, konzentrierte ich mich darauf, meine Füße in Bewegung zu halten. Es hat wenig Sinn, die Trostlosigkeit, diese seelische und körperliche Qual beschreiben zu wollen. In jenen seltenen hellen Momenten, in denen ich zum Denken fähig war, besann ich mich darauf, dass Avot in der Dritten Verheerung und anderen solchen Zeiten noch viel schlimmere Prüfungen überstanden hatten.
    Da ich so erschöpft war, habe ich nicht die geringste Ahnung, wann Brajj sich von uns trennte. Laros Stimme brachte mich wieder zu mir. Er schrie und kämpfte mit der Sphär, aus der er herauszukommen versuchte. Ich sagte Brajj, dass wir anhalten müssten. Da ich keine Antwort bekam, schaute ich mich um und entdeckte, dass er fort war. Das Seil, das uns verbunden hatte, war seinem Stecher zum Opfer gefallen. Kein Wunder: Wir befanden uns auf dem
Grund eines Tals, das direkt zum wenige Meilen entfernten Hafen führte, und der Boden war von all den Reifen und Ketten, die über ihn gefahren waren, schwarz und glatt poliert. Diesen Weg hatte auch der Militärkonvoi genommen. Gletscherspalten brauchte man hier nicht zu fürchten. Also hatte Brajj sich aus dem Staub gemacht. Ich sah ihn nie wieder.
    Laro mühte sich verzweifelt ab, freizukommen. Vielleicht war er schon lange in diesem Zustand. Ich hatte Angst, er könnte sich verletzen, wenn er herumstrampelte. Deshalb ließ ich die Sphär anschwellen, bis er sich überhaupt nicht mehr bewegen konnte, kniete mich neben ihn, schaute ihm in die Augen und versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Das war ungeheuer schwierig. Ich hatte welche gekannt, Tulia zum Beispiel, die das mühelos beherrschten – oder jedenfalls vermittelte sie den Eindruck. Yul hätte ihn einfach angebrüllt, sich die Wirkung seiner Persönlichkeit zunutze gemacht. Aber mir fiel so etwas nicht einfach zu.
    Er wollte wissen, wo Dag sei. Ich

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