Anathem: Roman
oben ins Eis und wickelte meine Kord um seinen Griff – zumindest behauptete er das.
Ich wollte unsere Verbindung zu dem Transportschlitten und zu Laro und Dag nicht verlieren, musste mich aber davon losschneiden, um irgendeine Hoffnung auf Verbesserung der Lage zu haben. Das Ende meiner Kord verband ich mit der Seilschlaufe um meine Taille. Dann schnitt ich mich von dieser Schlaufe los. Nun war ich frei von den Hunderten von Pfund, die mich nach unten zogen. Die Kord war jetzt unsere einzige Verbindung zu dem Transportschlitten und zu Laro und Dag. Ich gab Brajj Anweisungen, nach denen er die Sphär kleiner machte. Anschließend warf er sie mir hinunter. Ich klemmte sie wieder zwischen den Wänden der Gletscherspalte ein. Diesmal – jetzt, wo ich Bewegungsfreiheit genoss – war ich in der Lage, mich rittlings daraufzusetzen. Zum ersten
Mal seit dem Unfall nahm ich mein Gewicht von diesem harten Ding, das meinen Fall gebremst und mir das Leben gerettet hatte. Ein Blick hinunter bestätigte mir, dass es tatsächlich der Transportschlitten war, der sich schräg zwischen den Wänden der Spalte verkeilt hatte, einem Stock ähnlich, den man einem Monster zwischen die Kiefer gestoßen hat. Als ich ihn von meinem Gewicht befreite, verschob er sich und stürzte kurz darauf weitere zehn Fuß in die Tiefe, bis er sich erneut verkeilte. Brajj hatte sein Ende der Kord an seinen ins Eis gerammten Stecher gebunden. Ich konnte mich selbst aus der Gletscherspalte herausretten, indem ich die Sphär ausdehnte und mich von ihr nach oben schieben ließ, während ich für den Fall, dass ich abstürzte, eine Schlaufe der Kord um eine Hand behielt. Als ich endlich draußen war, verstärkten wir den Anker, indem wir auch meinen provisorischen Eispickel ins Eis trieben und die Kord zusätzlich an ihm befestigten.
Für kurze Zeit konnten wir das Seil heraufziehen, indem wir die Kord kürzer werden ließen (einfache Anwendung von Saunt Ablavans Ratsche), doch nach ein paar Minuten ging ihr die gespeicherte Energie aus. Wenn ich sie eine Weile draußen in der Sonne liegen ließ, würde sie sich wieder aufladen, aber wir hatten keine Zeit. Und viel Energie konnte sie ohnehin nicht speichern. Deshalb zogen Brajj und ich anschließend mithilfe von Muskelkraft weiter. Was deutlich einfacher wurde, als der Transportschlitten erst einmal oben angelangt war. Etwas später konnten wir Laros Leiche tief unten im Tal des blauen Lichts sehen, wo sie aus dem Schnee auftauchte, der sich auf dem Grund angesammelt hatte. Das Seil, das unter ihr baumelte, war nicht länger als zehn Fuß und endete in einem verpfuschten Knoten. Es hatte Laro, mich und den Transportschlitten noch in die Tiefe zu ziehen vermocht, musste aber unter dem Ruck, mit dem der Schlitten und ich zum Stillstand gekommen waren, nachgegeben haben. Dag musste dann im freien Fall bis auf den Grund der Gletscherspalte gestürzt und von dem weiter auf ihn rieselnden Schnee begraben worden sein. Ich hoffte, dass sein Tod nicht so lang gedauert hatte wie das qualvolle Hinabgleiten und -stürzen, das ihm vorausgegangen war.
Brajj warf mir immer wieder böse Blicke zu, als wollte er sagen: Warum tun wir das? , aber ich beachtete ihn nicht und zog weiter an dem Seil, bis wir Laros Körper vollends hochgehievt hatten. Als wir
ihn schließlich über den Rand rollten, zuckte und keuchte er und rief den Namen seiner Gottheit.
Jetzt verstand ich Brajj. Er war klüger, rationaler als ich in dem Moment. Er hatte sich vermutlich gefragt: Was werden wir machen, wenn sich herausstellt, dass er noch lebt?
Halb tot, lag ich ein paar Minuten lang einfach im Schnee. Alle Verletzungen, die ich bei dem Sturz erlitten hatte, wurden allmählich spürbar.
Uns blieb nichts anderes übrig als weiterzumachen. Brajj war wütend darüber, einen Verletzten am Hals zu haben; er stampfte dauernd im Kreis herum, starrte sehnsüchtig bergab und fragte sich wahrscheinlich, ob er es allein versuchen sollte. Nach ein paar Minuten beschloss er, bei uns zu bleiben – fürs Erste.
Laro hatte einen Oberschenkel gebrochen, und sein Schädel hatte während des Sturzes Schläge abbekommen, die ein paar blutige Schürfwunden zur Folge gehabt hatten. Davon und von der Tatsache, dass er eine Weile im Schnee begraben gelegen hatte, war er erschöpft.
An einem von Laros Füßen baumelte immer noch ein Schneeschuh. Ich nahm ihn auseinander und schiente mit den Einzelteilen sein Bein. Dann ließ ich meine Sphär im Schnee groß und
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