Anathem: Roman
Stelle zerschnitten, an dem die Klinge seines Stechers es in einem Moment der Panik – oder der Berechnung – getroffen haben würde.
»Ich dachte, dass du es vielleicht zerschnitten hast«, sagte ich. Warum, weiß ich nicht. Vermutlich war es dieser merkwürdige Avotdrang, Fakten zu konstatieren.
»Vielleicht habe ich das.«
Wir schauten uns eine Weile an. Mir schien, dass Brajj ein außergewöhnlich rationaler Mensch war – mehr als manche Avot. Er war auch so einer wie die Crades oder Cord oder Handwerker Quin, intelligent genug, um ein Avot zu sein, aber, aus welchem Grund auch immer, doch extramuros geblieben. In diesem Fall schien es, als hätte ihn die Tatsache, dass er ohne jede Verbindung zu jemandem
wie ihm selbst allein hier draußen war, durch und durch berechnend und skrupellos gemacht.
»Sagen wir mal, dir ist egal, ob ich lebe oder sterbe«, sagte ich. »Sagen wir mal, jede Entscheidung, die du getroffen hast, beruhte auf Eigennutz. Du hast uns am Leben erhalten, uns mitgenommen und dich an uns angeseilt, weil du wusstest, dass wir versuchen würden, dir zu helfen, falls du abstürzen solltest. Sobald aber einer von uns abstürzte, hast du das Seil gekappt, um dich selbst zu retten. In diese Gletscherspalte hast du aus reiner Neugierde hinabgeschaut. Nichts anderes. Dann hast du meine Sphär gesehen. Du weißt, dass ich Avot bin. Wie sieht deine Entscheidung aus?«
Brajj hatte das alles leicht amüsant gefunden. Er hörte selten kluge Leute Sachverhalte klar formulieren, und irgendwie genoss er das Ungewohnte daran. Er dachte ungefähr eine Minute über meine Frage nach, wobei er sich irgendwann umdrehte und den Hang hinunterschaute. Dann wendete er sich wieder mir zu und betrachtete mich prüfend. »Beweg deine Beine«, sagte er.
Ich tat es.
»Arme.«
Ich tat es.
»Diese Gheeths haben mehr Scherereien gemacht, als sie wert waren«, sagte er.
»Ist das eine rassistische Beleidigung für das, was Laro und Dag sind?«
»Rassistische Beleidigung? Ja, das ist eine rassistische Beleidigung «, sagte er in spöttischem Ton. »Gheeths sind genau richtig zum Gräbenausheben und Unkrautjäten. Hier draußen mehr als nutzlos. Du dagegen könntest mich am Leben halten. Wie wirst du da herauskommen?«
Wir hatten 3700 Jahre lang unter dem Verbot gelebt, irgendetwas anderes als Kulle, Kord und Sphär zu besitzen. Ganze Regale voller Bücher waren über die genialen Anwendungsmöglichkeiten geschrieben worden, die Avot in schwierigen Situationen für diese Gegenstände ersonnen hatten. Viele der Tricks hatten Namen: Saunt Ablavans Ratsche. Ramgads Apparat. Der faule Fraa. Ich war kein Fachmann, aber als wir noch jünger gewesen waren, hatten Jesry und ich einige solcher Bücher durchgeblättert und nur zum Spaß ein paar Tricks daraus geübt.
Korde und Kullen waren aus demselben Stoff gemacht: einer Faser,
die in der Lage war, sich zu einer festen Spirale aufzuwickeln, was sie kurz, dick und elastisch machte, oder sich zu einem geraden Faden zu entspannen, wodurch sie lang, schlank und starr wurde. Im Winter befahlen wir den Fasern in unseren Kullen, sich aufzuspulen. Sie wurden viel kürzer, machten aber mithilfe der in den Spiralen eingeschlossenen Luft die Kulle dick und warm. Im Sommer streckten wir die Fasern, wodurch die Kullen lang und dünn wurden. Entsprechend konnte die Kord dick und garnartig oder lang und einem Faden gleich sein.
Ich brachte meine Sphär etwa auf die Größe meines Kopfes, wickelte meine Kulle darum und schnürte sie mit meiner Kord zusammen. Dann ließ ich die Sphär größer werden und die Kulle sich mit ihr ausdehnen. Die Sphär verkeilte sich zwischen den Wänden. Sie konnte sich nach oben, aber nicht nach unten bewegen, da die Spalte sich nach unten hin verjüngte. Ich schob sie ein kleines Stück hoch, und etwas weiter oben fand sie ein neues Gleichgewicht. Dann dehnte ich und schob, dehnte und schob, jedes Mal nur wenige Zoll. Die Wände waren erstaunlich unregelmäßig, was das alles weitaus komplizierter machte, als es jetzt klingen mag. Als ich den Bogen aber erst einmal raus hatte, ging es schnell.
»Hab sie!«, rief Brajj. An den Eiswänden kratzend, bewegte die Sphär sich von mir weg. Panik überkam mich, bis ich mit einem wedelnden Arm meine Kord erwischte. Ich ließ sie durch meine Hand gleiten, bis Brajj die Sphär ganz aus der Gletscherspalte herausgezogen hatte. Jetzt waren er und ich durch die Kord miteinander verbunden. Er rammte seinen Stecher dort
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