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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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sagte ihm, Dag sei tot, was nicht zu seiner Beruhigung beitrug – aber ich konnte ihn nicht anlügen, und ich war zu erschöpft, um mir einen besseren Plan auszudenken.
    Motorengeräusch durchschnitt die stille, eisige Luft. Es kam von talaufwärts. Ein kleiner Konvoi aus Militärholen, der auf uns zufuhr – losgelöst von dem großen Zug, um zurückzufahren und irgendwas am Hafen zu erledigen.
    Bis sie auf Rufweite herangekommen waren, hatte Laro sich wieder im Griff, falls man unkontrollierbares Schluchzen so nennen konnte. Ich ließ die Sphär sich entspannen, schnürte die Kord auf und zog ihn aus dem Bündel heraus, bevor ich alles wieder in meinen Taschen verstaute.
    Diese Burschen in den Militärholen waren echte Profis. Sie kamen gleich zu uns, nahmen uns mit und brachten uns in die Stadt. Sie stellten keine Fragen, jedenfalls erinnere ich mich an keine. Obwohl mein Gemütszustand nicht gerade heiter war, vermerkte ich das als komisch. Mit meiner naiven Vorstellung von der säkularen Welt hatte ich angenommen, dass die Soldaten, einfach weil sie mit ihren Uniformen und Waffen ein bisschen wie Polizisten aussahen, sich auch wie Polizisten benehmen und uns verhaften würden. Es stellte sich jedoch heraus, dass ihnen die Gesetzeslage völlig egal war, was mir nach kurzer Überlegung auch durchaus sinnvoll erschien. Sie brachten Laro in eine Klinik, die von der hiesigen Kelx
getragen wurde – einer Religionsgemeinschaft, die in dieser Gegend verbreitet war. Dann setzten sie mich am Ufer ab. Ich bestellte mir in einem Gasthaus etwas Ordentliches zu essen und schlief mit dem Gesicht auf dem Tisch, bis ich hinausgeworfen wurde. Als ich auf der Straße stand, fühlte ich mich dünnhäutig, farblos, als könnte dieses arktische Sonnenlicht direkt durch mich hindurchscheinen und meinem Herzen einen Sonnenbrand verursachen. Aber ich konnte immer noch gehen, und ich hatte Geld – der Schlittenzugfahrer hatte die zweite Hälfte des Fahrpreises nicht kassiert. Ich buchte eine Fahrt auf dem nächsten Schiff nach Mahsht, ging an Bord, sobald sie mich ließen, kletterte in eine Koje und schlief ein weiteres Mal in diesem schrecklichen Anzugsack.
    Kelx: (1) Ein im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert A. R. entstandener religiöser Glaube. Der Name ist eine Zusammenziehung des Orthwortes Ganakelux, d. h. »Dreiecksort«, so genannt wegen der symbolischen Bedeutung von Dreiecken in der Ikonographie dieses Glaubens. (2) Eine Arch des Kelxglaubens.
    Kedew: Ein Anhänger des Kelx- oder Dreiecksglaubens.
    DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
    Etwa nach der Hälfte der viertägigen Fahrt hatte ich mich so weit erholt, dass ich der Selbstbeobachtung fähig war. Viel Zeit verbrachte ich damit, ganz still in der Messe des Schiffs zu sitzen und zu essen. Ich musste still sitzen, weil der Sturz meine Rippen und meinen Rücken übel zugerichtet hatte und jede Bewegung wehtat – selbst das Atmen. Das Essen war verglichen mit Energieriegeln gut. Vielleicht aß ich so viel davon, weil ich hoffte, es würde den Allesgutspiegel in meinem Blut heben und die düsteren Gedanken aus meinem Kopf vertreiben.
    Dass ich getötet würde, konnte nicht Teil von Fraa Jads Plan gewesen sein. Wo aber war er schiefgegangen? Lag es an meinen törichten Entscheidungen? Den Flüchtlingsverkehr über den Pol gab es zumindest schon so lange, dass Jad davon gehört haben konnte – er hatte gewusst, dass ein Efferat wie Orolo diese Route nach Ekba
nehmen würde. Es war also eine alte, etablierte Vorgehensweise. Und gerade weil sie so alt war, hatten wir alle ihre Risiken unterschätzt. Wir hatten angenommen, dass nichts so lange fortdauern konnte, wenn es nicht sicher war – so jedenfalls würden Avot die Dinge regeln, wenn wir das Sagen hätten.
    Aber wir hatten nicht das Sagen, und es war nicht so geregelt.
    Vielleicht war es aber auch die meiste Zeit eine sichere und etablierte Sache, die nur durch den Militärkonvoi völlig durcheinandergebracht worden war.
    Oder wir hatten einfach Pech gehabt.
    »Du siehst aus, als hättest du vor kurzem ganz schön was zu beackern gehabt.«
    Ich fuhr zusammen und schaute auf, indem ich die Augäpfel verdrehte – nicht den Kopf, denn ich hatte einen schrecklich steifen Hals. Da stand ein Mann und schaute mich an. Vermutlich in den Dreißigern. Mir war schon am Vortag aufgefallen, dass er mich musterte. Jetzt war er herübergekommen und machte diese Bemerkung, um ein Gespräch mit mir anzufangen.
    Ich gebe es

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