Anathem: Roman
nicht herunterfielen.
Cord nahm das alles ziemlich gelassen, wenn man bedachte, dass sie erst kurz bevor die sich in ihren Hol drängten, erfuhr, dass sie anderthalb Dutzend Thadeexperten in roten Hemden transportieren würde. Während sie uns dort hinausfuhr, schaute sie mich immer wieder fassungslos an. »Es ist in Ordnung«, sagte ich zu ihr. »Sie
sind Avot – sie müssen evoziert worden sein. Ich weiß nicht, aus welchem Math sie kommen – offensichtlich aus einem, der sich auf Thade spezialisiert hat, vielleicht einem Ableger von Klingenthal oder so …«
Hinter mir übersetzte ein amüsiertes Rothemd das alles in Orth und erntete eine Runde Gekicher dafür.
Unbehagen überkam mich. Fürchterliches Schlamm-auf-dem-Kopf-Unbehagen.
Diese Leute kamen tatsächlich aus dem Klingenthal.
Ich versuchte, mich nach ihnen umzudrehen, aber irgendetwas erschwerte mir die Bewegung. Als ich danach tastete, fühlte ich drei Hände, die zu Thalern hinter oder neben mir gehörten und mir blutdurchtränkte Stoffbündel auf Gesicht und Schädel drückten. Platzwunden. Die hatte ich gar nicht bemerkt. Es waren nicht die in ihren Hol gestopften Fremden, die Cord so beunruhigten, es war mein Gesicht.
Fast während der ganzen Zeit hatte ich die falschen Emotionen gehabt. Ganz am Anfang, nach dem Überfall der beiden Gheeths, hatte ich Angst bekommen. Angemessenerweise. Deshalb war ich weggerannt. Dann hatte ich mir eingeredet, ich könnte irgendwie damit fertig werden. Ich könnte durch Straßen oder Kanäle dem Pöbel entgehen, könnte Laro zur Vernunft bringen, mich verteidigen. Sie hätten eigentlich nicht vor, mich umzubringen; das könnte nicht sein. Die Polizei würde jeden Augenblick da sein. Als Nächstes hatte sich so etwas wie eine benommene Schicksalsergebenheit eingestellt. Dann waren die Fraas und Suurs von Klingenthal gekommen. Danach war alles faszinierend und irgendwie erheiternd gewesen, und ich hatte es wie unter dem Einfluss einer chemischen Droge erlebt: die Reaktion meines Körpers auf Verletzung und Stress. Schließlich hatte ich Cord mit einer kräftigen, blutigen Umarmung begrüßt, als wäre nichts geschehen.
Nach wenigen Minuten Fahrt fiel ich jedoch in mich zusammen. Wie Soldaten, die sich beim Appell aufspielten, fingen all meine Verletzungen an, meinem Gehirn Schmerz zu melden. Was für vorteilhafte Substanzen auch von meinen Drüsen in meinen Blutkreislauf gespritzt worden sein mochten, sie hatten sich abrupt zurückgezogen. Es war, als hätte sich unter mir eine Falltür aufgetan. Ohne Vorankündigung wurde ich zu einem zitternden, wimmernden Nervenbündel, das sich ächzend vor Schmerz wand.
Nach zwanzigminütiger Fahrt unter Sammanns Führung gelangten wir an eine Stelle am linken Ufer eines breiten Flusses, der aus den Bergen hinunter in den Fjordausläufer von Alt Mahsht floss. Sie sah aus, als könnte sie in früheren Zeiten eine breite Sandbank gewesen sein, die aber schon vor langer Zeit zugepflastert worden war und nacheinander verschiedene, jetzt in Trümmern liegende Industriekomplexe beherbergt hatte. An einem Ende davon befanden sich eine Sportbootrampe und ein Rastplatz mit ein paar übelriechenden Latrinen. Den fuhren wir an, worauf ein paar Urlauber das Weite suchten. Ich wurde aus Yuls Hol gehievt und flach auf einen Picknicktisch gelegt, den sie zuvor mit Isomatten gepolstert hatten, die wiederum zum Schutz vor was auch immer aus mir heraussickern würde mit Planen bedeckt worden waren. Yul öffnete seinen Verbandskasten, der wie seine gesamte übrige Ausrüstung nicht im Laden gekauft, sondern aus gefundenen Gegenständen improvisiert worden war. In eine große, dicke Polytüte schüttete er weißes Pulver aus einem Polyröhrchen: Salz und ein keimtötendes Mittel. Das füllte er mit zwei Gallonen Leitungswasser, schüttelte das Ganze eine Minute lang und erhielt auf diesem Weg sterilisierte, gewöhnliche Kochsalzlösung. Er klemmte sich die Tüte unter den Arm und drückte sie fest an seine Rippen, wodurch ein Flüssigkeitsstrahl herausschoss, mit dem er meine Wunden ausspülte. Wenn er sich eine Wunde ausgesucht hatte, riss er die Gaze ab und wässerte sie, bis ich schrie, um dann noch weitere dreißig Sekunden zuzugeben. Dann übernahm Gnel, der mit etwas Übelriechendem arbeitete. Als er es an meiner geplatzten Stirn anwendete, bemerkte ich, dass es eine Tube Kleber war – dasselbe Zeug, mit dem man den Griff einer Teetasse wieder ankleben würde. Wunden, die zum
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