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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ducken. Auf diese Weise kam sie dem bewaffneten Mann auf dem Tromm rasch näher. Bei all diesen Kursänderungen fiel es ihm schwer, mit dem Gewehr auf sie zu zielen. Ich an seiner Stelle hätte nicht schießen können, nicht
einmal, um mein eigenes Leben zu retten, weil ihre Gymnastik so faszinierend anzuschauen war.
    Ein Schuss dröhnte. Nicht von dem Mann auf dem Tromm und auch nicht von dem Anführer hinter mir im Kreis. Der Schall kam von woanders her: schwer auszumachen, weil er von den Fassaden rund um den Platz als Echo zurückgeworfen wurde. Mir schlotterten die Knie.
    Fünf Fuß von mir entfernt erlebte der Anführer der Gheeth etwas Unangenehmes; ein Rothemd hatte diese Ablenkung ausgenutzt, um ihn zu überwältigen und zu entwaffnen.
    Die Frau, die die Gymnastik machte, bewegte sich immer weiter auf den bewaffneten Mann auf dem Tromm zu, der unbeweglich auf der Stelle verharrte und sich auf der Suche nach der Quelle dieses Schusses verzweifelt umblickte.
    Dann ein zweiter Schuss. Das Gewehr sprang dem Möchtegernheckenschützen aus der Hand und polterte aufs Pflaster. Er packte seine Hand und heulte auf. Die rot behemdete Frau hörte mit ihrer Gymnastik auf, verfiel in einen normalen Laufschritt und steuerte geradewegs auf die hingefallene Waffe zu.
    »Fusil!«, rief einer der anderen Rothemden. Er zeigte über den Kanal. Auch seine beiden Nachbarn zur Rechten und zur Linken wirbelten herum und schauten in andere Richtungen. Wir Übrigen brauchten einen Moment, um zu entdecken, was er entdeckt hatte.

Jenseits des Kanals stand ein von seinem Besitzer klugerweise verlassener Imbisswagen. Ein motorisiertes Dreirad war dicht hinter ihn gefahren und benutzte sein Aufgebot an Schildern und flatternden Fähnchen als Sichtschutz. Am Steuer des Dreirads saß ein Mann: Ganelial Crade. Ein andrer stand auf dem Beifahrersitz: Yulassetar Crade. Er trug eine lange Waffe. An den Schützen auf dem Tromm gewandt, bellte er über den Kanal: »Der erste Schuss sollte dich erstarren lassen«, erklärte er. »Der zweite sollte dich hilflos machen. Über den dritten wirst du nie etwas erfahren. Zeig mir deine Hände. Zeig mir deine Hände! «
    Der Gheeth hielt die Hände hoch – eine davon blutig und deformiert.
    »Hau ab!«, brüllte Yul, während er sein Gewehr schulterte.
    Wie eine Lawine purzelte der Gheeth über die Motorhaube des Tromm herunter und rollte einen Moment auf dem Pflaster weiter, bevor er sich aufrappelte und davonrannte.

    »Raz, wir müssen los!«, rief Yul. »Ihr Übrigen in den roten Hemden – wer oder was ihr auch immer seid – könnt gerne mitkommen. Vielleicht wollt ihr ja genauso dringend aus dieser Stadt verschwinden wie wir.«
    Auf der Höhe des Platzes führte eine Brücke über den Kanal. Gnel sauste darüber und kam auf mich zu. Der Kreis aus Rothemden wich an einer Stelle auseinander, um ihn hereinzulassen. Während Gnel durch die Lücke fuhr, beäugte er sie ein wenig nervös und hielt dann neben mir an. Ich konnte mich nicht besonders gut bewegen. Yul beugte sich von oben über mich, packte mich in Höhe des Kreuzes am Gürtel und hievte mich wie einen Flößer, der bewusstlos aus dem Fluss gezogen wird, auf das Dreirad. Jetzt war es ausgesprochen voll auf diesem winzigen Fahrzeug. Gnel bog in einer weitausholenden Kurve langsam auf den Platz ein und fuhr eine Straße hinauf. Er trug Kopfhörer, die in ein Nicknack eingesteckt waren. Sammann musste ihn mit Instruktionen versorgen.
    Die Rothemden folgten uns, indem sie neben und hinter dem Dreirad hertrotteten. Anscheinend fanden sie Yuls Standpunkt, dass es Zeit war, die Stadt zu verlassen, durchaus vernünftig. Als erst einmal klar war, welchen Weg wir nahmen, steigerten sie das Tempo und drohten das Dreirad zu überholen, was Gnel dazu veranlasste, etwas mehr Gas zu geben. Innerhalb weniger Minuten legten wir eine Meile zurück und kamen in eine Gegend mit Bahngleisen und Lagerhäusern, in der es nicht so voll war wie im Zentrum von Alt Mahsht. Hier konnten normal große Fahrzeuge auf den Straßen verkehren. Zwei davon tauchten wie aus dem Nichts auf und überfuhren uns beinahe: die beiden Hole von Yul und Gnel mit Cord und Sammann am Steuer.
    Wie wir später feststellten, waren die Rothemden fünfundzwanzig an der Zahl. Irgendwie bekamen wir sie alle auf die beiden Hole und das Dreirad. Ich hatte noch nie Menschen so dicht gedrängt gesehen. Wir hatten Rothemden auf dem Dach von Yuls Hol, die die Ellbogen ineinanderhakten, damit sie

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