Anathem: Roman
Sekunde hatte er sie auf ungefähr fünf Fuß im Durchmesser ausgedehnt, was sie ziemlich schlaff machte. Er legte sie über mich, wobei Kopf und Füße an den Enden herausragten, der Rest jedoch vor weiteren Schlägen geschützt war – jedenfalls, solange dieser Mann da stand und die Sphär so festhielt. Ein Windstoß konnte sie verschieben. Doch dem kam er zuvor, indem er mit einem Satz obendraufsprang und sich darauf stellte: eine unsichere Angelegenheit, sogar wenn man es mit beiden Füßen probierte. Er dagegen verlagerte sein ganzes Gewicht auf einen Fuß, während er den anderen anzog. In jüngeren Jahren hatten wir manchmal in einer Art Kinderspiel versucht, auf unseren Sphärs zu stehen. Manche Erwachsene taten das als Übung zur Verbesserung von Gleichgewicht und Reflexen. Das hier schien mir allerdings weder die Zeit noch der Ort für Freiübungen zu sein.
Es hatte den nützlichen Nebeneffekt, die Leute um mich herum noch mehr zu verblüffen, als es der Schrei getan hatte. Doch bald entdeckte ein junger Mann meinen Kopf – ein verlockendes und gut sichtbares Ziel -, trat auf mich zu und holte mit einem Bein zum Treten aus. Ich schloss die Augen und wappnete mich. Über mir hörte ich ein scharfes Geräusch. Ich schlug die Augen auf, um meinen Angreifer rückwärtsfallen zu sehen. Eine Sekunde später spritzte mir Feuchtigkeit ins Gesicht: ein Schauer von Blut. Ein paar kleine Kieselsteine oder Ähnliches prasselten ganz in der Nähe aufs Pflaster. Während ich mir das Blut aus den Augen blinzelte, erkannte ich, dass es keine Kieselsteine, sondern Zähne waren.
Ein weiterer Schrei ertönte vom Rand der Menge. Der war vollkommen anders. Er kam von einem Menschen, der im wahrsten
Sinne des Wortes unglaubliche Schmerzen erlitt; sein Schrei klang überrascht, als wollte er sagen: Ich hatte keine Ahnung, dass irgendetwas so schmerzhaft sein könnte wie das, was mir jetzt widerfährt! Das zog die Aufmerksamkeit aller auf sich, außer der eines Gheeths, der mit einem seltsam starren Grinsen auf mich und meinen Beschützer zukam und dabei ein Messer aus der Tasche zog und aufschnappen ließ. Diesmal bekam ich besser mit, was passierte. Der Mann, der über mir auf der Sphär stand, täuschte mit seinem Spielbein einen Tritt vor, und der andere fuchtelte mit seinem Messer dort herum, wo er vermutete, dass der Tritt hingehen würde; aber noch bevor ihm klar war, wie sehr er sich verschätzt hatte, packte mein Beschützer die Messerhand und verdrehte sie – indem er nicht nur ruckartig das Handgelenk bewegte, sondern von der Sphär sprang und mitten in der Luft einen Purzelbaum über dem Arm des Angreifers vollführte, dessen Gelenke und Knochen sich unter dumpfen, knackenden Geräuschen voneinander lösten. Die Sphär rollte von mir hinunter. Das Messer fiel zu Boden, und ich versuchte, es zu erwischen, aber zu spät – mein Beschützer gab ihm einen Tritt, worauf es über den Rand der Kanalmauer flog und verschwand.
Ich war ungeschützt. Das spielte jedoch keine große Rolle, denn die ganze Menschenmenge hatte sich in Richtung dieses grauenhaften, erstaunten Schreis verlagert. Ich rappelte mich auf alle viere hoch und kam dann in eine kniende Position.
Die Quelle des Schreis war ein männlicher erwachsener Gheeth, der von einer kahl geschorenen Frau in einem roten Hemd in einer Art kompliziertem Ringergriff gehalten wurde. Ein ähnlich aussehender Mann von vielleicht achtzehn Jahren stand Rücken an Rücken mit ihr und schlug erfolgreich jeden nieder, der sich näherte. Als ich das Ganze zu Gesicht bekam, hatte der Pöbel gerade angefangen, Steine auf diese beiden zu schleudern. Mein Beschützer ließ mich allein und schlüpfte durch die Menge zu den beiden anderen, um ihnen bei der Abwehr von Wurfgeschossen zu helfen. Langsam zogen sie sich zurück. Ein Großteil des Pöbels drängte hinter ihnen her, während manche sich fortzuschleichen begannen; Steine auf einen einzelnen Avot zu werfen, hatten sie vielleicht noch als eine Art Sport betrachtet, aber mit dem, was hier vor sich ging, wollten sie nichts zu tun haben.
In dem Glauben, ich könnte mich jetzt einfach aus dem Staub machen, drehte ich mich um und starrte in die Augen des Gheeth-Anführers.
Er hatte ein Gewehr. Das war auf mich gerichtet. »Nein«, sagte er, »wir haben dich nicht vergessen. Beweg dich!« Mit dem Gewehr deutete er in die Richtung, die die Menge zu nehmen schien. Langsam verfolgte sie die zurückweichenden Rothemden am Rand des
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