Anathem: Roman
Kleben zu groß waren, wurden mit Glasfiberpackband geschlossen. Irgendwann bohrte eine Klingenthalsuur eine Stopfnadel mit einem Stück Angelschnur aus Gnels Spinnerkasten in mich hinein. War eine Wunde mit Kleber, Band oder Angelschnur versehen, klatschte jemand in einem roten Hemd Vaseline darauf und bedeckte sie mit etwas Weißem. Ein Klingenthalfraa, offensichtlich ein Masseur, untersuchte, ohne auch nur um Erlaubnis zu fragen, meinen ganzen Körper auf Knochenbrüche und Blutungen. Falls meine Milz noch nicht gerissen war, als er sie sich vornahm, war sie es spätestens, als er zur Leber überging. Seine Einschätzung: leichte Gehirnerschütterung, drei gebrochene Rippen, Spiralfraktur eines Armknochens,
zwei kleine Knochenbrüche in einer Hand, und ich müsse damit rechnen, eine Zeitlang Blut zu pinkeln.
Da ich inzwischen genug Zeit gehabt hatte, mich dafür, wie ich während der Fahrt zusammengebrochen war, zu schämen, setzte ich jetzt alles daran, nicht mehr zu schreien als unvermeidbar war. Aus irgendeinem Grund musste ich an Lio denken. Schon seit der Zeit, bevor er zugelassen worden war, beschäftigte er sich intensiv mit allen Thaldingen. In Saunt Edhar hatte er jedes Buch ausfindig gemacht, das von dort kam oder von Leuten geschrieben war, die behaupteten, im Thal gewesen oder von Thalern verprügelt worden zu sein. Er wäre vor Scham gestorben, hätte er gewusst, dass ich in Anwesenheit dieser Leute nicht völlig gegen Schmerz immun gewesen war.
Unterhaltungen, an denen ich brennend gern teilgenommen hätte, fanden knapp außerhalb meiner Hörweite statt. Als sie meinen Kopf fertig zusammengeklebt hatten, konnte ich mich umschauen und sehen, dass Sammann mit einem älteren Fraa aus dem Thal sprach und eine Suur Cord tröstete, die jedes Mal, wenn sie ihr Gesicht in meine Richtung drehte, in Tränen ausbrach. Nach einer Weile, als man beschloss, dass ich überleben würde und somit einen lohnenswerten Gesprächspartner abgeben könnte, kam Fraa Osa – der Erste unter Gleichen der Thaler – herüber, um mit mir zu sprechen. Mit Ausnahme der Näherin, die sich ausgesprochen viel Mühe mit einer mäandernden Hiebwunde an meiner Wade gab, kratzten die Wundversorger ihren ganzen Abfall zusammen und entfernten sich. Yul ging zu Cord, umarmte sie ungestüm und trug sie praktisch ans Flussufer hinüber, wo sie sich gründlich ausheulte.
»Wir wurden gestern evoziert«, sagte Fraa Osa. Er war der erste Mann im roten Hemd gewesen, den ich in dem Handgemenge gesehen hatte: derjenige, der mich mit seiner Sphär bedeckt und sich einbeinig auf sie gestellt hatte. Er war vermutlich in den Fünfzigern. »Sie sagten, wir sollten nach Tredegarh gehen. Darauf konsultierten wir einen Globus und kamen zu dem Schluss, dass die günstigste Route über Mahsht führte.«
Das Klingenthal lag ungefähr hundert Meilen außerhalb von Mahsht. Wenn man von dort aus einen großen Kreis über den Ozean beschrieb, war man schon fast in Tredegarh; soweit klang das also sinnvoll.
»Einheimische nahmen uns mit nach Mahsht, wo wir etwa zur
selben Zeit ankamen wie du. Diejenigen unter uns, die fluckisch sprechen, bemühten sich um Plätze auf einem Schiff. Dort sprach uns dein Magister an.«
»Mein Magister?!«, rief ich. Dann sah ich einen Hauch von Ironie auf Osas Gesicht: Er hatte das halb im Scherz gesagt.
Aber nur halb. »Sark«, sagte er. »Er ist uns wohlbekannt. Er kommt zu unseren Aperts und spricht mit uns über seine Ideen.« Osa zuckte die Schultern und wedelte sanft mit den Händen, was ich für seine Art hielt, mir zu sagen, dass er versuchte, Sarks Predigten fair abzuwägen. »Jedenfalls erkannte er uns auf der Straße und erzählte uns, dass ein einzelner Avot von einem Pöbel verfolgt würde. Das betrachteten wir als eine Emergenz.«
Bei diesem Begriff fiel mir eins der Thalkundekapitel ein, die Lio mir über die Jahre eingepaukt hatte.
Während der Zeit der Rekonstitution, buchstäblich im Jahr 0, als die Lageplätze der ersten neuen Mathe vermessen wurden, damit die Grundsteine für ihre Uhren und Mynster gelegt werden konnten, war eine Gruppe frisch vereidigter Avot an einen entlegenen Ort in der Wüste gereist, um ein solches Projekt hochzuziehen, hatte sich dort jedoch von argwöhnischen Einheimischen belagert gesehen. Der Ort, an den man sie geschickt hatte, war nämlich von Hüpfkrautpflanzungen bedeckt, und sie waren auf einen Schuppen gestoßen, in dem das Kraut gerade zu einer konzentrierten, illegalen
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