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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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hypothetischer wechselnder Kosmen, die sich leicht von dem Kosmos unterscheiden.«
    »Sehr gut. Nun, dieses verallgemeinerte Kosmosmodell, das jeder Mensch in seinem oder ihrem Gehirn mit sich herumträgt –
hast du eine Vorstellung, wie es wohl funktioniert? Wie es wohl aussieht?«
    »Nicht die geringste!«, sagte ich. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung von den Nervenzellen und dergleichen. Wie sie zusammengebaut werden könnten, um ein solches Modell zu schaffen. Wie das Modell von Moment zu Moment umgestaltet werden könnte, um hypothetische Szenarien darzustellen.«
    »Nicht weiter schlimm«, sagte Orolo, während er die Hände hob, um mich zu beruhigen. »Dann lassen wir Nervenzellen einfach außen vor. Das Wichtige an dem Modell ist aber was?«
    »Dass es in vielen Zuständen gleichzeitig existieren kann und dass seine Wellenfunktion von Zeit zu Zeit kollabiert, um ein brauchbares Ergebnis zu liefern.«
    »Ja. Und wie sieht das alles nun in der polykosmischen Interpretation dessen, wie Quantentheorik funktioniert, aus?«
    »Es gibt keine Überlagerung mehr. Keinen Kollaps der Wellenfunktion. Nur viele verschiedene Kopien von mir – von meinem Gehirn -, die alle tatsächlich in verschiedenen parallelen Kosmen existieren. Das Kosmosmodell, das in jedem dieser parallelen Gehirne wohnt, befindet sich wirklich eindeutig in dem einen oder anderen Zustand. Und sie wirken störend aufeinander ein.«
    Er ließ mich ein Weilchen darüber brüten. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Genau wie diese Vorstellungen, von denen wir vorher gesprochen hatten – plötzlich waren sie da in meinem Kopf. »Du brauchst das Modell gar nicht mehr, stimmt’s?«
    Orolo nickte nur, lächelte, stachelte mich mit kleinen auffordernden Bewegungen an.
    Ich fuhr fort – und begriff es, während ich es aussprach: »Es ist so viel leichter auf diese Weise! Mein Gehirn braucht dieses ungeheuer detaillierte, exakte, konfigurierbare, Quantenüberlagerung stützende Modell des Kosmos nicht mehr zu unterhalten! Alles, was es tun muss, ist, den Kosmos, in dem es sich wirklich befindet, wahrnehmen – reflektieren -, wie er wirklich ist.«
    »Die Abweichungen – die Myriaden möglicher alternativer Szenarien – wurden aus deinem Gehirn entfernt«, sagte Orolo und klopfte sich mit den Knöcheln an den Schädel, »und hinaus in den Polykosmos geschickt, wo sie ja ohnehin existieren!« Er öffnete seine Faust und streckte sie zum Himmel, als ließe er einen Vogel frei. »Du brauchst sie nur wahrzunehmen.«

    »Aber jede einzelne Variante von mir existiert nicht in völliger Isolation von den anderen«, sagte ich, »sonst würde es nicht funktionieren.«
    Orolo nickte. »Quanteninterferenz – die gegenseitige Beeinflussung ähnlicher Quantenzustände – verknüpft die verschiedenen Versionen deines Gehirns.«
    »Du sagst also, mein Bewusstsein erstrecke sich über mehrere Kosmen«, bemerkte ich. »Das ist eine ziemlich gewagte Behauptung.«
    »Ich sage, alle Dinge tun das«, erwiderte Orolo. »Das ergibt sich aus der polykosmischen Interpretation. Das einzig Bemerkenswerte am Gehirn ist, dass es einen Weg gefunden hat, sich das zunutze zu machen.«
    Für die nächste Viertelstunde sagte keiner von uns etwas, während wir sorgfältig unseren Weg bergab wählten und der Himmel in einem tiefen Purpurrot versank. Ich hatte die Illusion, dass er sich mit zunehmender Dunkelheit von uns entfernte, wobei er sich wie eine Seifenblase aufblähte und mit einer Geschwindigkeit von einer Million Lichtjahren pro Stunde von Arbre fortsauste, und wenn er an Sternen vorbeirauschte, fingen wir an, sie zu sehen.
     
    Einer der Sterne bewegte sich. Anfangs so dezent, dass ich stehen bleiben, mein Gleichgewicht finden und ihn scharf beobachten musste, um sicher zu sein. Es war keine Täuschung. Der alte animalische Teil meines Gehirns, der so sehr auf kaum merkliche, verdächtige Bewegung eingestellt war, hatte diesen einen Stern unter Millionen ausgewählt. Er befand sich am westlichen Himmel, nicht weit über dem Horizont, und war deshalb im Zwielicht zunächst gedämpft. Er stieg jedoch langsam und stetig ins Schwarze und änderte währenddessen seine Farbe und Größe. Am Anfang war er ein Nadelstich aus weißem Licht, genau wie jeder andere Stern, doch als er auf den Zenit zustieg, wurde er rot. Danach dehnte er sich zu einem orangefarbenen Fleck aus, um dann gelb zu flackern und einen Kometenschweif auszutreiben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten

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