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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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meine Augen mir alle möglichen Streiche gespielt, sodass ich seine Entfernung, seine Höhe und seine Geschwindigkeit falsch eingeschätzt hatte. Der Kometenschweif verschaffte mir jedoch schockartig die richtige Sicht: Das Ding war nicht hoch über uns im All, sondern kam herunter in die Atmosphäre, wobei es seine
Energie in zerfetzte, glühende Luft abließ. In der Nähe des Zenits hatte sich sein Aufstieg verlangsamt, und es war klar, dass er seine ganze Vorwärtsgeschwindigkeit verlieren würde, bevor er über unsere Köpfe hinwegflog. Der Kurs des Meteors hatte sich nie geändert: Er steuerte direkt auf uns zu, und je heller und dicker er wurde, desto mehr schien er reglos am Himmel zu hängen, wie ein geworfener Ball, der geradewegs auf einen zukam. Eine Minute lang war er eine kleine am Himmel fixierte Sonne, die Strahlen weißglühender Luft in alle Richtungen stieß. Dann schrumpfte er, verblasste über orangefarben wieder zu einem stumpfen Rot und wurde schwer erkennbar.
    Ich merkte, dass ich den Kopf so weit in den Nacken gelegt hatte wie möglich und senkrecht nach oben starrte.
    Auf die Gefahr hin, ihn aus dem Blick zu verlieren, ließ ich das Kinn sinken und schaute mich um.
    Orolo war hundert Fuß unterhalb von mir und rannte, so schnell er konnte, weiter den Berg hinunter.
    Ich gab den Versuch auf, das Ding am Himmel zu verfolgen, und rannte hinter ihm her. Als ich ihn einholte, waren wir fast schon am Rand der Grube.
    »Sie haben mein Analemma entziffert!«, rief er zwischen zwei schweren Atemzügen.
    Wir hielten an einer Schnur an, die in Hüfthöhe an Pfählen rund um den Grubenrand gespannt war, um zu verhindern, dass schläfrige oder betrunkene Avot hineinfielen. Ich hob den Blick und schrie erschrocken auf, als ich etwas absolut Riesenhaftes sah, genau über uns, wie eine niedrig hängende Wolke. Es war jedoch kreisrund. Ich begriff, dass es ein gigantischer Fallschirm war. Seine Tragleinen kamen an einer glühendroten Last zusammen, die weit unter ihm hing.
    Die Leinen fingen alle an zu zittern, der Fallschirm verlor seine Spannung, und dann trieb er allmählich auf einem kaum wahrnehmbaren Lüftchen seitwärts. Er war abgeschnitten worden. Das glühendrote Ding fiel wie ein Stein, streckte dann jedoch Beine aus blauem Feuer aus und begann wenige Sekunden später, erschreckend laut zu zischen. Es nahm Kurs auf den Boden der Grabungsstätte. Orolo und ich liefen an der Schnur entlang bis zum oberen Ende der Rampe. Dort bildete sich eine Menge aus eher faszinierten als verängstigten Fraas und Suurs. Orolo fing an, sich auf dem
Weg zu der Rampe zwischen ihnen hindurch zu schieben, während er über das Zischen der Rakete hinweg rief: »Fraa Landasher, mach das Tor auf! Yul, geh mit deinem Cousin raus und holt eure Fahrzeuge. Findet den Fallschirm und bringt ihn her! Sammann, hast du dein Nicknack? Cord! Hol deine Sachen, wir treffen uns auf dem Boden der Grube!« Damit stürzte er sich auf die Rampe und rannte allein in die Finsternis, um die Geometer zu empfangen.
    Ich rannte hinter ihm her. Meine gewohnte Rolle im Leben. Währenddessen hatte ich die Sonde – das Raumschiff oder was immer es war – aus den Augen verloren, aber jetzt war sie plötzlich da, genau auf einer Höhe mit mir und nur ein paar hundert Fuß entfernt, und sank in gemäßigter Geschwindigkeit auf den Tempel von Orithena zu. Ich war so überwältigt von ihrer unmittelbaren Präsenz, ihrer Hitze und ihrem Lärm, dass ich zurückschreckte, das Gleichgewicht verlor und auf die Knie fiel. In dieser Körperhaltung sah ich zu, wie die Sonde sich die letzten ungefähr hundert Fuß senkte. Ihre Lage und ihre Geschwindigkeit waren gleichbleibend, allerdings nur vermöge tausend winziger zuckender und wackelnder Bewegungen ihrer Raketendüsen: Etwas sehr Raffiniertes steuerte dieses Ding, indem es jede Sekunde eine Unmenge von Entscheidungen traf. Es hielt auf das Dekagon zu. In der vergangenen halben Sekunde war von den Gasströmen, die mit Hyperschall aus diesen Düsen herausschossen, ein Höllensturm aus zerschmetternden Kacheln ausgelöst worden. Gekrümmte, insektenartige Landebeine nahmen die restliche Geschwindigkeit der Sonde auf, dann wurden ihre Düsen dunkel. Sie zischten jedoch noch ein paar Sekunden weiter, während irgendeine Art Gas durch die Maschinen geschickt wurde, das die Leitungen reinigte und die Sonde in eine kühle, bläuliche Wolke hüllte.
    Dann war Orithena still.
    Ich rappelte mich hoch und begann die

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