Anathem: Roman
konnte sich durchaus mit dem viel größerer Konzente messen. In diesem Punkt verspürte ich keinerlei Unsicherheit. Allerdings war schon eine ansehnliche Gruppe aus Edhar eingetroffen und hatte Embrase gefeiert. Zweifellos hatten Arsibalt und Tulia die Sache in die Hand genommen und eine an Fraa Jads weltenerschütterndem Dröhnen verankerte Darbietung auf die Beine gestellt, über die der Rest der Konvox immer noch bei den Messalen sprach. Was also blieb mir? Harmonie und Polyphonie kamen nicht in Betracht. Um alle mit schierem Können umzuhauen, dazu war ich nicht gut genug. Am besten war es, das Ganze einfach zu halten – mich nicht zu übernehmen, mich nicht zu blamieren. Sehr wenige Solisten waren so gut, dass die Leute ihnen tatsächlich länger als ein, zwei Minuten zuhören wollten. Ich musste einfach das Meine tun, dem Anlass Achtung erweisen, dann zurücktreten und den Mund halten.
Aber einfach irgendein beliebiges Übungsstück herunterleiern, was leicht gewesen wäre und genügt hätte, wollte ich auch nicht, weil – und ich weiß, wie verrückt das klingt – ich Ala rühren wollte. In einem Punkt hatte Jesry recht: Ich würde sie erst sehen, wenn sie sich entschieden hatte. Aber sie musste irgendwo in diesem Mynster sein, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich anzuhören, was aus meinem Mund kommen würde. Wenn ich irgendein altes Übungsstück sang, das wir in Edhar gelernt hatten, würde das vielleicht nostalgische Gefühle bei ihr hervorrufen, wäre aber banal und langweilig. Jesry war im Weltraum gewesen. Ich jedoch konnte meine eigenen Abenteuer erleben, Neues lernen, Eigenschaften annehmen, von denen Ala nichts wusste – noch nicht. Gab es eine Möglichkeit, das musikalisch auszudrücken?
Vielleicht. Die Orithener hatten sich eines Systems von rechnerischem Gesang bedient, das eindeutig in Traditionen verwurzelt war, die ihre Gründer von Edhar mitgebracht hatten. Insoweit war es für jeden Edharier eindeutig zu erkennen. Es handelte sich um eine Methode, Berechnungen zu Informationsmustern durchzuführen, indem man eine bestimmte Notenfolge zu neuen Melodien permutierte. Die Permutation erfolgte ad hoc nach bestimmten Regeln,
die mithilfe des Formalismus von zellulären Automaten definiert waren. Nach den Reformen im Gefolge der Zweiten Verheerung hatten unversehens rechnerlose Avot diese Art von Musik erfunden. In manchen Konzenten war sie verkümmert, in anderen zu etwas anderem mutiert, doch in Edhar war sie immer ernsthaft praktiziert worden. Wir alle hatten sie als eine Art musikalisches Kinderspiel gelernt. Aber in Orithena hatte man ganz neue Sachen damit gemacht und sie dazu verwendet, Probleme zu lösen. Oder vielmehr, ein Problem zu lösen, dessen Natur ich noch nicht verstand. Jedenfalls klang es gut – aus irgendeinem Grund waren die Ergebnisse in aller Regel melodischer als bei der edharischen Version, die für Berechnungen durchaus brauchbar, als Musik jedoch zuweilen schwer erträglich war. Ich hatte genügend Zeit bei den Orithenern verbracht, um einiges davon zu hören und mit dem System einigermaßen vertraut zu werden. Speziell ein Stück hatte ich während des Fluges nach Tredegarh und meiner Zeit in Quarantäne ständig im Ohr gehabt. Vielleicht würde es verschwinden, wenn ich es laut sänge.
Sobald mir das eingefallen war, erschien mir die Wahl naheliegend und einfach. Und so trat ich, als die Reihe an mich kam, vor und sang dieses Stück. Ich sang es frei und mühelos, weil mich keinerlei Bedenken beschlichen, ob es das Richtige war.
Jedenfalls nicht, bis es zu spät war. Denn als ich ein paar Phrasen gesungen hatte, durchlief wie eine Welle ein verblüfftes Raunen ein Segment des Publikums. Es war nicht laut, aber es war unverkennbar. Ich schaute unwillkürlich hin, und dann kam ich ins Stocken und hätte mich beinahe versungen, als ich sah, dass es hinter dem Schirm der Tausender hervorgekommen war.
Da ich spürte, dass ich womöglich in irgendwelche Schwierigkeiten hineingeschlittert war, tat ich das, was jeder schuldbewusste Fid tun würde: Ich warf den Hierarchen einen verstohlenen Blick zu. Sie erwiderten den Blick. Die meisten hatten glasige Augen, einige steckten aber auch die Köpfe zusammen und begannen miteinander zu tuscheln. Zu diesen zählte auch, wie ich bemerkte, mein alter Freund Varax, der Inquisitor.
Die Gewissheit, dass ich hilflos war, verschaffte mir sogar eine Art Erleichterung – ganz gleich, in welches Fettnäpfchen ich getreten
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