Anathem: Roman
ja, männlich. Während ich ihn ansah, verstand ich, warum Fraa Lodoghir so versessen darauf gewesen war, mich zu ebnen. Die edharische Gruppe hatte etwas, was die Leute beeindruckte. Orolo hatte uns zu Stars gemacht. Lodoghir hatte das Plenar als Gelegenheit gesehen, einen von uns zurechtzustutzen.
»Jesry«, rief ich.
»Hallo, Raz. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die finden, dass du bei dem Plenar schlecht ausgesehen hast.«
»Danke. Nenn mir ein Phänomen, von dem wir durch die Arbeit im Konfigurationsraum einen Begriff bekommen, den wir auf andere Weise nicht bekämen.«
»Die Zeit«, sagte er.
»Ah ja«, sagte ich. »Die Zeit.«
»Ich dachte, die Zeit gäbe es gar nicht!«, sagte Emman sarkastisch.
Jesry sah Emman einige Augenblicke lang an, dann wandte er sich mir zu. »Was, hat dein Freund mit Fraa Jad geredet?«
»Es ist schön, dass der Hemnraum uns Aufschluss über die Zeit gibt«, sagte ich, »aber Emman wird sagen, dass die Zampanos, mit denen er reden muss, bereits an die Existenz der Zeit glauben …«
»Arme, unbedarfte Narren!«, rief Jesry aus, was Emman ein leises, schmerzliches Lachen und den dabeistehenden Avot fragende Blicke entlockte.
»Welche Relevanz hat das Bild vom Hemnraum denn für sie?«, fuhr ich fort.
»Überhaupt keine«, sagte Jesry, »bis Fremde aus vier verschiedenen
Kosmen zugleich in die Stadt kommen. Hey, kann ich euch was zu trinken besorgen?«
Zu Jesrys ärgerlichen Eigenschaften zählte auch, dass er einige seiner besten Leistungen in betrunkenem Zustand vollbrachte. Wir Servitoren hatten in der Küche unseren Anteil an Wein und Bier verkostet, und ich bekam gerade wieder einen klaren Kopf, weshalb ich beschloss, Wasser zu trinken. Gleich darauf fanden wir uns im größten Schreibsaal des hiesigen edharischen Kapitels wieder – jedenfalls nahm ich an, dass es der größte sein musste. Die Schiefertafeln waren mit Berechnungen übersät, die ich erkannte. »Sie lassen euch Kosmographie treiben?«, fragte ich.
Jesry folgte meinem Blick und konzentrierte sich auf eine Tabelle, die auf eine Tafel geschrieben war. Eine Spalte enthielt Längen-, die andere Breitengrade – und als ich in Letzterer einundfünfzig Grad und ein paar Minuten sah, wurde mir klar, dass es sich um die Koordinaten von Saunt Edhar handelte.
»Das Laboratorium von heute Morgen«, erklärte er. »Wir mussten einen Haufen Berechnungen überprüfen, die die Ita vergangene Nacht angestellt hatten. Sämtliche Teleskope der Welt – darunter auch M & M, wie du siehst – sollen heute Nacht auf das Schiff der Geometer gerichtet werden.«
»Die ganze Nacht oder …«
»Nein. In etwa einer halben Stunde. Irgendwas wird passieren«, verkündete Jesry in seinem üblichen selbstbewussten Bariton. Ich merkte, wie Emman sich wand. »Etwas, das uns einen anderen Blick verschaffen wird«, fuhr Jesry fort, »der interessanter ist als die Schubplatte an seinem Hintern, die ich so viele Stunden angeglotzt habe.«
»Woher wissen wir das?«, fragte ich, obwohl mich Emmans sichtliche Nervosität ein wenig ablenkte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Jesry, »ich folgere nur.«
Emman machte eine ruckartige Kopfbewegung in Richtung Ausgang und wir folgten ihm in das Klostrum.
»Ich kann es euch genauso gut gleich sagen«, meinte er, sobald wir uns nicht mehr in Hörweite des restlichen Lukub befanden, »da das Geheimnis in einer halben Stunde sowieso bekannt werden wird. Es handelt sich um eine Idee, die nach der Heimsuchung von Orithena bei einem sehr einflussreichen Messale ausgebrütet worden ist.«
»Warst du dabei?«, fragte ich.
»Nein – aber es ist der Grund, warum ich hierher geschickt worden bin«, sagte Emman. »Wir haben da oben in einer synchronen Umlaufbahn einen alten Aufklärungsvogel. Er hat massenhaft Treibstoff an Bord, deshalb kann er manövrieren, wenn wir es ihm sagen. Wir glauben nicht, dass die Geometer über ihn Bescheid wissen. Wir haben dafür gesorgt, dass der Vogel keinen Pieps von sich gibt, deshalb ist es ihnen nicht in den Sinn gekommen, seine Frequenzen zu stören. Tja, heute Morgen haben wir dem Ding per Schmalstrahl ein Signalbündel geschickt, worauf es seine Feinsteuerraketen gezündet und sich in eine neue Umlaufbahn begeben hat, welche die des Ikosaeders in einer halben Stunde schneiden wird.« Mit dem Zeh zeichnete er das Schiff der Geometer in den Sand des Weges: ein grobes Polygon als Hülle des Ikosaeders, ein Fersenabdruck an einer Kante als Schubplatte. »Das Ding
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