Anathem: Roman
setzen«, sagte ich Lio, nachdem wir eine halbe Stunde herumgewandert waren, ohne ein Wort zu sagen. »Ich habe sie heute Nachmittag bei der Periklyne gesucht, aber …«
»Sie war nicht da«, sagte Lio, »sie hat sich auf das hier vorbereitet.«
»Du meinst das Ausrichten der Teleskope oder …«
»Eher die militärische Seite des Ganzen.«
»Wie ist sie denn da reingeraten?«
»Sie ist gut. Irgendwer hat das mitbekommen. Das Militär kriegt, was es will.«
»Woher weißt du das überhaupt? Hast du auch mit der militärischen Seite zu tun?«
Lio blieb stumm. Wir gingen ein paar Minuten weiter. »Vor ein paar Tagen haben sie mich in ein neues Laboratorium gesteckt«, sagte er. Ich merkte, dass er sich schon eine ganze Weile damit quälte, sich das von der Seele zu reden.
»Ach ja? Was müsst ihr denn dort machen?«
»Sie haben ein paar alte Dokumente ausgegraben. Richtig alt. Wir haben sie abgestaubt. Uns damit vertraut gemacht. Alte, nicht mehr gebräuchliche Wörter nachgeschlagen.«
»Was für Dokumente?«
»Technische Zeichnungen. Spekulationen. Handbücher. Sogar Kritzeleien auf der Rückseite von Briefumschlägen.«
»Wozu?«
»Sie rücken nicht mit der Sprache raus, und keiner kriegt das Gesamtbild zu sehen«, sagte Lio, »aber nachdem wir mit ein paar anderen geredet, beim Lukub unsere Eindrücke verglichen und die Daten auf den Dokumenten – unmittelbar vor den Schrecklichen Ereignissen – in Betracht gezogen haben, sind wir uns alle ziemlich sicher, dass das, was wir da vor Augen haben, die Originalpläne für die Allestöter sind.«
Ich stieß, einfach aus Gewohnheit, ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. Von den Allestötern wurde, wenn überhaupt, nur so gesprochen, wie wir beispielsweise von Gott oder der Hölle sprachen. Doch alles an Lios Ton und Verhalten verriet mir, dass er es vollkommen ernst meinte. Längeres Schweigen trat ein, während ich diese Neuigkeit zu verarbeiten versuchte.
Um zu beweisen, dass er sich irren musste, wandte ich ein: »Aber das richtet sich gegen alles – alles -, worauf die Welt basiert!« Ich sprach von der Welt nach der Rekonstitution. »Wenn sie dazu bereit sind, dann kann man sich auf überhaupt nichts mehr verlassen.«
»Natürlich gibt es viele, die deiner Meinung sind«, sagte Lio, »und deshalb …« Er atmete stoßweise aus. »Deshalb wollte ich dich einladen, an meinem Lukub teilzunehmen.«
»Welchen Zweck verfolgt dieser Lukub?«
»Einige Leute denken daran, zu den Antarkten überzulaufen.«
»Überzulaufen – heißt das, sich mit ihnen zu verbünden? Mit den Geometern?«
»Mit den Antarkten«, insistierte er. »Inzwischen steht fest, dass die Tote in der Sonde von Antarkt stammte.«
»Aufgrund der Blutproben in den Fläschchen?«
Er nickte. »Aber die Projektile in ihrem Körper stammen aus dem Kosmos von Pangäa.«
»Die Leute vermuten also, dass die Antarkten auf unserer Seite sind …«
Wieder nickte er. »Und dort oben irgendeinen Konflikt mit den Pangäern haben.«
»Es geht also darum, ein Bündnis zwischen den Avot und den Antarkten zu schmieden?«
»Du hast es erfasst«, sagte Lio.
»Alle Achtung! Und wie genau wollt ihr das anstellen? Wie wollt ihr überhaupt mit ihnen kommunizieren? So, dass die Säkulare Macht nichts davon mitbekommt, meine ich.«
»Immer mit der Ruhe. Das ist alles schon geklärt.« Weil er wusste, dass ich mich damit nicht zufriedengeben würde, fügte er hinzu: »Mithilfe der Laserleitstern-Anlagen an den großen Teleskopen. Wir können sie auf das Ikosaeder richten. Sie werden das Licht sehen, aber es kann von niemandem abgefangen werden, der sich nicht genau auf der Strahlungslinie befindet.«
Ich dachte an das Gespräch, das ich vor Monaten mit Lio geführt hatte: Damals hatten wir uns gefragt, ob es wirklich stimmte oder bloß ein Ammenmärchen war, dass die Ita uns ständig überwachten. Idiotischerweise schaute ich mich um, bloß für den Fall, dass vielleicht plötzlich irgendwelche versteckten Mikrophone zum Vorschein gekommen waren. »Machen die Ita …«
»Einige von ihnen sind mit von der Partie«, sagte Lio.
»Wie genau soll die Beziehung eigentlich aussehen, die diese Leute mit den Antarkten eingehen wollen?«
»Mit der Diskussion darüber geht der größte Teil unserer Zeit drauf. Zu viel Zeit. Es gibt natürlich ein paar Spinner, die glauben, wir könnten da rauf und auf ihrem Schiff leben, und das wäre dann wie eine Himmelfahrt. Die meisten sind vernünftiger. Wir werden
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