Anathem: Roman
Das war natürlich reine Phantasie – ich wäre in solcher Gesellschaft weniger als nutzlos -, aber es machte Spaß, sich in Träumereien darüber zu ergehen. Was eine solche Zelle für einen Auftrag bekäme, ließ sich nicht sagen. Aber es wäre bestimmt interessanter, als Vermutungen über Trägheitstensoren anzustellen. Vermutlich irgendetwas unglaublich Gefährliches. Also war es vielleicht nur gut, dass sie in einer anderen Liga als ich spielten.
Oder – eine Überlegung ganz ähnlicher und doch ganz anderer Art – wie sähe wohl Fraa Jads Zelle aus, und was für Aufgaben würde man ihr zuweisen? Welches Privileg es rückblickend für mich gewesen war, ein paar Tage in Gesellschaft eines Tausenders zu reisen! Soweit ich erkennen konnte, war er der einzige Millenarier in der Konvox.
Ich wäre schon zufrieden, wenn ich mit wenigstens einem aus der alten Uhraufziehmannschaft in Edhar in einer Zelle wäre. Doch ich bezweifelte, dass das der Fall sein würde. Ala quälte ganz offensichtlich irgendein Aspekt der Entscheidungen, die sie im Hinblick auf die Zelleneinteilungen getroffen hatte, und obwohl ich nicht wissen konnte, was genau ihr so zusetzte, diente es mir doch als Warnung, mich nicht in einer Phantasie von einer schönen Zeit auf Tour mit alten Freunden zu verlieren. Der Respekt – ich war versucht, es Ehrfurcht zu nennen -, mit dem wir Edharier von vielen in der Konvox betrachtet wurden, machte es eher unwahrscheinlich, dass man mehrere von uns in einer Zelle konzentrieren würde. Man würde uns auf so viele Zellen wie möglich verteilen. Wir würden Anführer sein und auf ähnliche Weise einsam wie Ala.
Fraa Jad näherte sich vom Felsen her. Ich fragte mich, ob sie ihm ganz oben, im Math der Tausender, Quartier gegeben hatten. Falls
ja, musste er eine Menge Zeit mit Treppensteigen verbringen. Er erkannte mich schon von weitem und spazierte auf mich zu.
»Ich habe Orolo gefunden«, sagte ich, obwohl Jad das natürlich schon wusste. Er nickte.
»Es ist bedauerlich – was passiert ist«, sagte er. »Orolo hätte zu gegebener Zeit die Labyrinthe durchschritten und wäre mein Fraa auf der Zinne geworden, und es wäre gut gewesen, an seiner Seite zu arbeiten, seinen Wein zu trinken, seine Gedanken zu teilen.«
»Sein Wein war schrecklich«, sagte ich.
»Dann also seine Gedanken zu teilen.«
»Er schien eine ganze Menge zu verstehen«, sagte ich. Und ich wollte fragen, wieso - hatte er kodierte Botschaften in den Gesängen der Tausender entschlüsselt? Aber ich wollte mich nicht blamieren. »Er glaubt – er glaubte -, ihr hättet eine Praxik entwickelt. Ich kann nicht umhin, mir vorzustellen, dass das dein hohes Alter erklärt.«
»Die zerstörerischen Auswirkungen von Strahlung auf lebendige Systeme lassen sich auf Interaktionen zwischen einzelnen Teilchen – Photonen, Neutronen – und Molekülen in dem betroffenen Organismus zurückführen«, betonte er.
»Quantenereignisse«, sagte ich.
»Ja, und deshalb liegen eine Zelle, die gerade eine Mutation durchgemacht hat, und eine, bei der das nicht der Fall ist, auf Narrativen, die nur durch eine einzige Gabelung im Hemnraum getrennt sind.«
»Altern«, sagte ich, »ist auf Kopierfehler in den Sequenzen sich teilender Zellen zurückzuführen – und dabei handelt es sich ebenfalls um Ereignisse auf Quantenebene …«
»Ja. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie eine plausible und in sich stimmige Mythologie entstehen konnte, derzufolge Leute, die mit Atommüll zu tun hatten, eine Praxik erfanden, wie sich Strahlenschäden beheben ließen, und sie später so erweiterten, dass sie auch noch die Auswirkungen des Alterns abmilderte und so weiter.«
Dieses und so weiter schien furchtbar viele Möglichkeiten zu beinhalten, die ich aber lieber nicht weiterverfolgte. »Du bist dir doch darüber im Klaren«, sagte ich, »wie explosiv diese Mythologie ist, wenn sie im Säkulum Verbreitung findet?«
Er zuckte die Achseln. Das Säkulum ging ihn nichts an. Doch die Konvox war etwas anderes. »Einige hier wollen diese Mythologie unbedingt in den Rang einer Tatsache erhoben wissen. Das würde ihnen Trost verschaffen.«
»Zh’vaern hat ein paar eigenartige Fragen danach gestellt«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf einen Zug von Matarrhiten, der in einiger Entfernung über den Rasen schwebte.
Das war ein bewusster Schachzug. Ich hoffte, Fraa Jad auf meine Seite zu ziehen, indem ich ihm Gelegenheit bot, mir darin beizupflichten, dass diese Leute
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