Anathem: Roman
Möglichkeit, dich umzustimmen? Es in Ordnung zu bringen? Wiedergutzumachen?«, fragte ich.
»Nein! Ich will damit sagen, ich habe in dem Sinne eine schreckliche Entscheidung getroffen, wie Orolo vor den Toren von Orithena eine schreckliche Entscheidung getroffen hat.«
Ich brauchte ein paar Augenblicke, um zu verstehen. »Schrecklich«, sagte ich endlich, »aber richtig.«
Dann flossen die Tränen so heftig, dass sie die Augen schließen und mir den Rücken zukehren musste. Sie ließ meine Hand los und wankte davon, die Schultern gekrümmt, als hätte man ihr gerade ein Messer in den Rücken gestoßen. Sie schien der kleinste Mensch in der Konvox zu sein. Jeder Instinkt befahl mir, ihr nachzurennen und ihr den Arm um die knochigen Schultern zu legen. Aber ich wusste, sie würde mir einen Stuhl über den Kopf ziehen.
Ich ging zu dem Tromm und holte meinen Rucksack und meine Marke: eine rechteckige Platte wie eine kleine photomnemonische Tafel, die man gelöscht hatte.
Dann machte ich mich wieder an die Arbeit, den Trägheitstensor des Schiffes der Geometer abzuschätzen.
Ich verschlief den größten Teil des Nachmittags, und nach dem Aufwachen fühlte ich mich schrecklich. Mein Körper hatte sich gerade an die Lokalzeit gewöhnt, da machte ich durch meine seltsame Tageseinteilung alles wieder kaputt.
Ich ging früh zu Avrachons Dotat. Das abendliche Rezept erforderte
viel Schäl- und Schneidearbeit, weshalb ich mich mit einem Messer und einem Schneidebrett auf die vordere Veranda setzte und dort arbeitete, teils um das letzte Sonnenlicht zu genießen, teils aber auch in der Hoffnung, vielleicht Fraa Jad auf dem Weg zum Messale abfangen zu können. Avrachons Dotat war ein großes Steinhaus, nicht ganz so festungsartig wie einige mathische Bauwerke, die ich nennen könnte, mit Balkonen, Kuppeln und Erkern, die den Wunsch in mir weckten, ihm anzugehören, nur damit ich meine tägliche Arbeit in einer so bezaubernden und malerischen Umgebung verrichten konnte. Als hätte das einzige Ziel des Architekten darin bestanden, Neid in den Herzen von Avot zu säen, damit sie intrigierten und manövrierten, um hier hineinzukommen. Ich hatte Glück, dass eine so außergewöhnliche Ereigniskette es mir ermöglicht hatte, hier auch nur eine Stunde auf der Veranda zu sitzen und Gemüse zu schälen. Mein Gespräch mit Ala hatte mich daran gemahnt, mir diese Gelegenheit tunlichst zunutze zu machen, solange ich konnte. Das Dotat lag auf einem Hügel, sodass ich einen guten Blick über die offenen Rasenflächen hatte, die sich zwischen anderen Dotaten und Kapitelhäusern hinzogen. Gruppen von Avot kamen und gingen, einige in aufgeregtem Gespräch, einige stumm, vornübergebeugt, erschöpft. Fraas und Suurs waren aufs Geratewohl über das Gelände verstreut, in ihre Kullen gehüllt, auf ihre Sphärs gebettet, schlafend. Der Anblick so vieler in so unterschiedlichem Stil Gekleideter erinnerte mich aufs Neue an die Vielgestaltigkeit der mathischen Welt – etwas, was mir bis zu meiner Ankunft hier nie so bewusst gewesen war – und rückte Alas Worte von einer Zweiten Wiedergeburt in ein anderes Licht. Die Idee, die Tore aus den Angeln zu reißen, war in gewisser Weise spannend, einfach weil sie eine so große Veränderung darstellte. Aber würde sie nicht auch das Ende alles dessen bedeuten, was die Avot in 3700 Jahren aufgebaut hatten? Würden Menschen in der Zukunft voller Ehrfurcht leere Mynster besichtigen und denken, dass wir verrückt gewesen sein mussten, solche Gebäude aufzugeben?
Ich fragte mich, wer wohl noch meiner Zelle zugeteilt war und welche Aufgaben die für den Antischwarm Verantwortlichen uns wohl zugewiesen hatten. Eine plausible Vermutung war, dass ich schlicht mit meiner neuen Laboratoriumsgruppe zusammenbleiben und mit ihr das Gleiche wie bisher tun würde. Wir würden in Zimmern in einem Kasino in einer aufs Geratewohl ausgewählten Stadt
wohnen, über Diagrammen des Schiffes brüten und säkulares, von ungebildeten Dienern in Uniform herangeschafftes Essen zu uns nehmen. Zur Gruppe gehörten zwei eindrucksvolle Theoren, einer aus Baritoe, der andere aus einem Konzent am Meer der Meere. Die anderen waren eine langweilige Gesellschaft, und der Gedanke, mit ihnen auf Tour geschickt zu werden, begeisterte mich nicht gerade.
Gelegentlich bekam ich einen von den Klingenthalern zu Gesicht, und dann schlug mein Herz ein wenig schneller, während ich mir ausmalte, wie es wäre, mit ihnen in einer Zelle zu sein!
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