Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
eine etwa faustgroße Glaskuppel, die senkrecht aufragte. Sie war oben auf einen Sockel aus gemeißeltem Stein montiert, der etwa dieselbe Höhe hatte wie die Statue mit dem Prisma. »Es muss eine Art Teleskop sein, ich sehe nämlich den Schlitz, in den ihr die photomnemonische Tafel steckt«, sagte sie und stocherte in einer Öffnung in dem Sockel gleich unter der Linse herum. »Dieses Ding sieht aber nicht aus, als könnte es sich bewegen. Wie richtet ihr es aus?«
    »Es ist unbeweglich, und wir brauchen es nicht auszurichten, weil es ein Fischaugenobjektiv ist. Es kann den ganzen Himmel sehen. Wir nennen es das Auge der Clesthyra.«
    »Clesthyra – das ist doch das Ungeheuer aus der alten Sagenwelt, das in alle Richtungen gleichzeitig sehen konnte.«
    »Genau.«
    »Wozu ist es gut? Ich dachte, der Sinn eines Teleskops bestünde darin, auf etwas Bestimmtes zu fokussieren, und nicht darin, alles zu sehen.«
    »Diese Dinger wurden etwa um die Zeit des Großen Klumpens, als die Leute sich sehr für Asteroiden interessierten, weltweit in Sternrunden installiert. Du hast recht damit, dass sie nutzlos sind, wenn man auf etwas fokussieren möchte. Dagegen eignen sie sich
bestens dazu, die Bahn eines sich schnell am Himmel bewegenden Objekts aufzunehmen. Wie etwa den langen Lichtstreifen, den ein Meteorit zieht. Indem wir all das aufnehmen und messen, können wir Rückschlüsse auf die Art von Gesteinsbrocken ziehen, die vom Himmel fallen – woher sie kommen, woraus sie bestehen, wie groß sie sind.«
    Da aber das Auge der Clesthyra keine beweglichen Teile aufwies, vermochte es Cords Aufmerksamkeit nicht zu fesseln. Wir waren so hoch gestiegen wie möglich und hatten die Grenze ihrer kosmographischen Neugierde erreicht. An der sich kräuselnden Kette zog sie ihre Taschenuhr heraus und sah nach, wie viel Uhr es war, was ich als witzig bezeichnete, weil sie oben auf einer Uhr stand. Die Komik sah sie nicht. Ich bot ihr an, ihr zu zeigen, wie man die Uhrzeit las, indem man die Position der Sonne im Verhältnis zu den Megalithen prüfte, aber sie meinte, vielleicht ein andermal.
    Wir stiegen wieder hinab. Sie hatte das Gefühl, spät dran zu sein, und war unruhig wegen Dingen, die sie tun musste, und Besorgungen, die sie zu machen hatte – Sachen, wegen denen die Leute extramuros sich ihr Leben lang sorgten. Erst als wir die Wiese erreichten und das Jahrzehnttor in Sicht kam, entspannte sie sich ein wenig und fing an, alles, worüber wir gesprochen hatten, noch einmal zu durchdenken.
    »Also – was hältst du von der Behauptung dieser Saunt Wieheißt-sie-doch-gleich?«
    »Patagar? Dass die Geschichte von den Inkantore erfunden ist, damit die Zampanos uns kontrollieren können?«
    »Genau. Patagar.«
    »Nun, das Problem damit ist, dass die Säkularen Machthaber von Zeitalter zu Zeitalter wechseln.«
    »Neuerdings von Jahr zu Jahr«, sagte sie, aber mir war nicht klar, ob sie das ernst meinte.
    »Deshalb kann man sich nur schrecklich schwer vorstellen, wie sie über vier Jahrtausende hinweg eine durchgängige Strategie beibehalten sollten«, bemerkte ich. »Aus unserer Sicht wechseln sie so oft, dass wir uns nicht einmal die Mühe machen, die Übersicht zu behalten, außer um die Apert herum. Man könnte sich diesen Ort hier als Zoo für Leute vorstellen, die einfach keine Lust mehr haben, dem ihre Aufmerksamkeit zu widmen.«
    Ich vermute, ich klang ein wenig stolz. Ein wenig defensiv. Auf
der Schwelle des Jahrzehnttors verabschiedete ich mich von ihr. Wir hatten vereinbart, uns später in der Woche wieder zu treffen.
    Als ich über die Brücke zurückging, dachte ich, dass ich von all den Leuten, mit denen ich an diesem Tag gesprochen hatte, vermutlich derjenige war, der mit seiner Situation am wenigsten zufrieden war. Wenn ich aber dann hörte, wie das System von Jesry und Cord infrage gestellt wurde, verteidigte ich es ohne zu zögern und erklärte, warum es eine gute Sache war. Das kam mir, oberflächlich betrachtet, verrückt vor.
    Neustoff: Ein fester, flüssiger oder gasförmiger Körper mit physikalischen Eigenschaften, die es in natürlich vorkommenden Elementen oder deren Verbindungen nicht gibt. Diese Eigenschaften sind auf die Atomkerne zurückzuführen. Der Prozess, in dem Atomkerne aus kleineren Partikeln zusammengesetzt werden, heißt Nukleosynthese und findet üblicherweise im Inneren alter Sterne statt. Er unterliegt physikalischen Gesetzen, die kurz nach den Anfängen des Kosmos gewissermaßen in ihren

Weitere Kostenlose Bücher