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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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erfolgreich und hat ihren eigenen Orden gegründet. Davon könnte es irgendwo noch Kapitel geben.«
    »Mit dir zu reden ist frustrierend. Jeder Gedanke, der meinem kleinen Verstand einfällt, ist bereits irgendeinem Saunt vor zweitausend Jahren eingefallen und dann totgeredet worden.«
    »Ich möchte wirklich kein Besserwisser sein«, sagte ich, »aber genau das ist Saunt Loras Lehrsatz aus dem sechzehnten Jahrhundert.«
    Sie lachte. »Tatsächlich!«
    »Tatsächlich.«
    »Buchstäblich vor zweitausend Jahren hat eine Saunt die Behauptung aufgestellt …«
    »Dass jeder Gedanke, den der menschliche Verstand denken kann, schon einmal gedacht wurde. Das ist ein maßgeblicher Gedanke …«
    »Moment mal, war denn Saunt Loras Gedanke nicht ein neuer Gedanke?«
    »Den orthodoxen Paläoloriten zufolge war das der letzte Gedanke.«
    »Ach so. Tja, dann muss ich fragen …«
    »Was wir die ganzen 2100 Jahre, seit der letzte Gedanke gedacht wurde, hier gemacht haben?«
    »Genau. Um es unverblümt zu sagen.«

    »Nicht jeder ist mit diesem Lehrsatz einverstanden. Alle Welt liebt es, die Loriten zu hassen. Manche nennen Lora eine aufgewärmte Mystagogin und Schlimmeres. Aber es ist gut, Loriten um sich zu haben.«
    »Und wieso?«
    »Immer wenn jemand eine Idee entwickelt, die er für neu hält, stürzen die Loriten sich wie Schakale darauf und versuchen zu beweisen, dass sie in Wirklichkeit ungefähr 5000 Jahre alt ist. Und in den meisten Fällen haben sie recht. Das ist ärgerlich und demütigend, aber es sorgt zumindest dafür, dass die Leute nicht ihre Zeit damit vergeuden, altes Zeug wiederzukäuen. Und um das zu tun, müssen die Loriten ausgezeichnete Wissenschaftler sein.«
    »Daraus schließe ich, dass du kein Lorit bist.«
    »Nein. Wenn du Ironie magst, wird es dich freuen zu hören, dass nach Loras Tod ihr eigener Fid verfügte, all ihre Ideen seien 4000 Jahre vorher schon von einem Peregrinischen Philosophen geäußert worden.«
    »Das ist ja witzig – aber beweist es nicht Loras Argument? Ich versuche herauszufinden, was dich daran reizt. Warum bleibst du?«
    »Es ist gut, Ideen zu haben, selbst wenn sie alt sind. Allein um die fortschrittlichsten Theoriken zu verstehen, bedarf es einer lebenslangen Beschäftigung damit. Um den vorhandenen Vorrat an Ideen lebendig zu erhalten, bedarf es … all dessen.« Und ich fuhr mit dem Arm über den Konzent, der sich unterhalb von uns erstreckte.
    »Dann bist du also so etwas wie ein Gärtner, der ein Beet mit seltenen Blumen pflegt. Das hier ist dein Gewächshaus. Du musst es für immer in Schuss halten, oder die Blumen sterben aus … aber du wirst nie …«
    »Mit neuen Blumen warten wir nur selten auf«, gab ich zu. »Aber manchmal wird einer von einem kosmischen Strahl getroffen. Was mich zu dem bringt, was du hier oben alles siehst.«
    »Ja. Was ist das? Ich habe mein ganzes Leben lang zu diesem winzigen Ding hochgeguckt und gedacht, es hätte ein Teleskop obendrauf, durch das ein zerknitterter alter Fraa hindurchschaut.«
    Wir hatten die Spitze dieses »winzigen Dings« – das Pinakel – erreicht. Dessen Dach bestand aus einer Steinplatte, die zwei Mal so breit war wie ich groß. Hier oben gab es ein paar merkwürdig aussehende Vorrichtungen, aber keine Teleskope.
    »Die Teleskope sind unten in diesen Kuppeln«, sagte ich, »aber
vielleicht erkennst du sie gar nicht als solche.« Ich schickte mich an zu erklären, wie die Neustoffspiegel funktionierten, wie sie mithilfe von Laserleitstern-Anlagen die Atmosphäre auf Dichtigkeitsschwankungen untersuchten, dann ihre Form änderten, um die sich ergebenden Verzerrungen auszugleichen, das Licht sammelten und es in eine photomnemonische Tafel fallen ließen. Sie war jedoch mehr daran interessiert, herauszufinden, was unmittelbar vor ihr lag. Dazu gehörte ein Quarzprisma, größer als mein Kopf, das von einem aus Marmor gemeißelten muskulösen Saunt gehalten wurde und nach Süden zeigte. Ohne jede Erklärung von mir sah Cord, wie Sonnenlicht, das durch eine Fläche des Prismas hereinfiel, durch ein Loch im Dach weiter nach unten auf ein metallenes Gebilde weitergeleitet wurde. »Davon habe ich gehört«, sagte sie, »das synchronisiert die Uhr jeden Tag zur Mittagszeit, stimmt’s?«
    »Wenn es nicht bewölkt ist«, sagte ich. »Aber selbst während eines nuklearen Winters, der hundert Jahre Bewölkung bedeuten kann, gerät sie nicht allzu sehr aus dem Tritt.«
    »Was ist das für ein Ding?«, fragte sie und deutete auf

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