Anathem: Roman
arbeiteten, und eine geheizte Kapelle, in der Orolo gerne arbeitete und seine Fids unterrichtete. Ich führte Cord in diese Richtung. Wir traten durch zwei aufeinander folgende massive, eisenbeschlagene Hartholztüren (hier oben konnte das Wetter rau sein) und kamen in einen kleinen stillen Raum, der mit seinen Bögen und Buntglasrosetten aussah, als entstammte er dem Alten Mathischen Zeitalter. Auf einem Tisch, genau da, wo ich sie liegengelassen hatte, befand sich die photomnemonische Tafel, die Orolo mir gegeben hatte. Dabei handelte es sich um eine Scheibe, ungefähr so groß wie meine beiden Hände nebeneinander gehalten und drei Finger dick, aus dunklem, glasartigem Material. Darin eingelassen war das Bild des Saunt Tankred-Nebels, düster und schwer auszumachen, bis ich es aus dem Lichtkegel herauszog, der durch das Fenster in den Raum fiel.
»Das ist so ziemlich die dickste Phototypie, die ich je gesehen habe«, sagte Cord. »Ist das so etwas wie eine alte Technologie?«
»Mehr als das. Eine Phototypie fängt einen Moment ein – sie hat keine zeitliche Dimension. Siehst du, wie nah das Bild der Oberfläche zu sein scheint?«
»Ja.«
Ich legte eine Fingerspitze seitlich an die Tafel und schob sie abwärts. Das Bild wich meinem Finger folgend in das Glas zurück. Dabei veränderte sich der Nebel, indem er sich in sich selbst zusammenzog.
Die Fixsterne um ihn herum veränderten ihre Lage nicht. Als meine Fingerspitze am Boden der Tafel ankam, hatte der Nebel sich zu einem einzigen Stern von außerordentlicher Leuchtkraft gebündelt. »Auf der untersten Schicht der Tafel sehen wir den Tankred-Stern genau in der Nacht im Jahr 490, als er explodierte. Praktisch im selben Moment, als dessen Licht unsere Atmosphäre durchdrang, blickte Saunt Tankred auf und bemerkte es. Er rannte los und legte eine photomnemonische Tafel wie diese hier in das große Teleskop seines Konzents ein und richtete es auf diese Supernova. Dort blieb die Tafel und machte in jeder sternklaren Nacht Bilder von der Explosion, bis jemand sie im Jahr 2999 schließlich herausnahm und eine Reihe von Kopien davon erstellte, um sie an die Tausender zu verteilen.«
»So etwas sehe ich dauernd im Hintergrund von SF-Spulos«, sagte Cord, »aber mir war nicht klar, dass es Explosionen sind.« Sie fuhr ein paar Mal mit dem Finger seitlich an der Tafel hinauf und beförderte sie damit innerhalb einer Sekunde Tausende von Jahren vorwärts. »Aber deutlicher könnte es gar nicht sein.«
»Die Tafel hat noch alle möglichen anderen Funktionen«, erklärte ich und zeigte ihr, wie man einzelne Teile des Bildes bis zur größtmöglichen Auflösung heranzoomte.
In dem Moment wurde Cord klar, was ich meinte. »Die da«, sagte sie, während sie auf die Tafel zeigte, »die muss so etwas wie ein Synvor eingebaut haben.«
»Ja. Was sie viel leistungsfähiger macht als eine Phototypie – genau wie deine fünfachsige Fräse wegen ihres Gehirns viel leistungsfähiger ist.«
»Ist das denn nicht ein Verstoß gegen eure Regel?«
»Bestimmte Praxiken wurden von ihr ausgenommen. Wie der Neustoff in unseren Sphärs und unseren Kullen, und wie diese Tafeln.«
»Sie wurden ausgenommen – aber wann? Wann wurden all diese Entscheidungen getroffen?«
»Bei den Konvoxen nach der Ersten und Zweiten Verheerung«, sagte ich. »Weißt du, sogar nach dem Ende des Praxischen Zeitalters gelangten die Konzente dadurch zu einer gewaltigen Machtfülle, dass sie von ihren Syntaktischen Fakultäten erfundene Prozessoren an andere Geräte anschlossen – im einen Fall, um Neustoff herzustellen, und im anderen, um Sequenzen zu manipulieren. Das
erinnerte die Leute an die Schrecklichen Ereignisse und führte zur Ersten und Zweiten Verheerung. Unsere Vorschriften in Bezug auf die Ita und auf die Frage, welche Praxiken wir verwenden können oder nicht, stammen aus jener Zeit.«
Das war für Cords Geschmack immer noch zu abstrakt, aber plötzlich hatte sie einen Einfall, und ihre Augen weiteten sich. »Sprichst du von den Inkantoren?«
Aus einem dummen, unwillkürlichen Reflex heraus drehte ich den Kopf, um durchs Fenster in Richtung des millenarischen Maths zu schauen, einer Festung auf einer Klippe, in derselben Höhe wie die Spitze dieses Turms, durch ihre Mauern jedoch vor Blicken geschützt. Das nahm Cord wahr. Schlimmer noch, sie schien es erwartet zu haben.
»Der Mythos der Inkantoren fand seinen Ursprung in den Tagen unmittelbar vor der Dritten Verheerung«, sagte
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