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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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der Seele schafften, damit sie sich die nächsten zehn Jahre darüber nicht den Kopf zu zerbrechen brauchten.
    Er verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen, als wir den nordöstlichen Rand erreicht hatten. »Wusstest du, dass wir an einem wunderschönen Ort leben?«, fragte er.
    »Wie könnte ich das nicht wissen?«, erwiderte ich. »Jeden Tag gehe ich ins Mynster, ich sehe den Chor, wir singen das Anathem …«
    »Deine Worte sagen ja, dein zurückhaltender Ton sagt etwas anderes«, sagte Orolo. »Das hier hast du noch nicht einmal gesehen.« Damit wies er nach Nordosten.
    Die in diese Richtung führende Bergkette war im Winter unter Wolken und im Sommer unter Dunst und Staub verborgen. Jetzt befanden wir uns jedoch zwischen Sommer und Winter. Die vergangene Woche war heiß gewesen, doch am zweiten Tag der Apert war die Temperatur plötzlich gefallen, und wir hatten unsere Kullen zu winterlicher Dicke aufgeplustert. Als ich ein paar Stunden zuvor das Mynster betreten hatte, hatte es gestürmt, aber als ich die Treppe hinaufgestiegen war, hatte das Rauschen von Regen und Hagel allmählich nachgelassen. Bis ich oben bei Orolo angelangt war, war von dem Unwetter nichts mehr übrig als ein paar wilde Tropfen, die mit dem Wind umherrasten wie Asteroiden im Raum,
und einem Schaum aus winzigen Hagelkörnern auf dem Laufgang. Wir befanden uns fast in den Wolken. Der Himmel hatte sich auf die Berge gestürzt wie ein Meer, das gegen eine Landzunge tost, und nach einer halben Stunde seine kalte Energie verbraucht. Die Wolken lösten sich jetzt auf, doch weil die Sonne unterging, wurde der Himmel kein bisschen heller. Dennoch hatte Orolo mit dem Auge des Kosmographen an der Flanke eines Berges einen ausgedehnten Fleck entdeckt, der heller war als seine Umgebung. Als ich sah, worauf sein Finger zeigte, dachte ich erst, der Hagel hätte in irgendeinem Hochtal die Äste der Bäume versilbert. Doch dann konnten wir zuschauen, wie der Fleck eine immer wärmer werdende Farbe annahm. Er wurde weiter und heller, kroch den Berghang hinauf und setzte einzelne Bäume, deren Laub sich schon früh verfärbt hatte, in Flammen. Es war ein Strahl, der durch eine Lücke in der Wetterfront weit im Westen kam und sich mit sinkender Sonne allmählich aufwärtsschob.
    »Das ist die Art von Schönheit, von der ich wollte, dass du sie siehst«, sagte Orolo zu mir. »Nichts ist wichtiger, als dass du die Schönheit siehst und liebst, die unmittelbar vor dir liegt, denn sonst wirst du keinen Schutz gegen die Hässlichkeit haben, die dich einengen und auf so vielerlei Weise angreifen wird.«
    Ausgerechnet aus Fraa Orolos Mund war das eine erstaunlich poetische und sentimentale Bemerkung. Ich war so verblüfft, dass ich gar nicht darauf kam, mich zu fragen, was Orolo meinte, als er von der Hässlichkeit sprach.
    Wenigstens meine Augen waren offen für das, was er mir zeigen wollte. Das Licht auf dem Berg nahm blutrote, goldene, pfirsichund lachsfarbene Nuancen an. Für ein paar Sekunden tauchte es die Mauern und Türme des Millenariermaths in einen Feuerschein, den ich, wäre ich ein Deolatist, heilig genannt und als Beweis dafür genommen hätte, dass es einen Gott geben musste.
    »Schönheit bricht sich Bahn wie dieser Strahl durch die Wolken«, fuhr Orolo fort. »Dein Auge wird von der Stelle angezogen, wo er auf etwas trifft, das ihn zurückwerfen kann. Dein Verstand weiß jedoch, dass das Licht nicht von den Bergen oder Türmen ausgeht. Dein Verstand weiß, dass da etwas aus einer anderen Welt scheint. Hör nicht auf die, die sagen, es läge im Auge des Betrachters.« Damit meinte Orolo die Fraas des Neuen Zirkels und der Reformierten Alten Faanianer, aber genauso gut hätte er Thelenes sein können,
der einen Fid ermahnte, sich nicht von sphenischen Demagogen verführen zu lassen.
    Das Licht verweilte eine Minute auf der höchsten Brüstung, bevor es verschwand. Plötzlich war alles vor uns dunkelgrün, -blau und -violett. »Heute Nacht wird man gut sehen können«, sagte Orolo voraus.
    »Wirst du hierbleiben?«
    »Nein. Wir müssen wieder hinunter. Wir haben jetzt schon Ärger mit dem Schlüsselmeister. Ich muss noch ein paar Aufzeichnungen holen.« Orolo eilte davon und ließ mich für einen Moment allein. Erstaunt nahm ich einen kleinen Sonnenaufgang über den Bergen wahr: Der Strahl hatte, nachdem er unsichtbar durch den leeren Himmel emporgeglitten war, ein paar dünne Wölkchen gefunden und in Flammen gesetzt, so wie das Feuer Wollknäuel

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