Anathem: Roman
angesichts meiner Langsamkeit.
Da half es auch nichts, dass jetzt fast täglich Elikt gefeiert wurde. Im Laufe des letzten Jahres hatte ich gespürt, dass ich in Theorik und Kosmographie allmählich hinter manch anderen zurückfiel. Zeitweilig hatte ich mich schon damit abgefunden, einem Nicht-Edharier-Orden beizutreten und Hierarch zu werden. Dann, unmittelbar bevor ich von Trestanas zum Buch verurteilt worden war, hatte ich den Entschluss gefasst, um einen Platz unter den Edhariern zu kämpfen und mich der Erforschung der Hyläischen Theorischen Welt zu widmen. Stattdessen saß ich in diesem Raum fest und las Schwachsinn, während die anderen mir noch weiter vorauseilten – und die zur Verfügung stehenden Plätze im edharischen Kapitel auffüllten. Eigentlich gab es keine Obergrenze – keine Quoten. Wenn aber die Edharier auf Kosten der anderen mehr als zehn oder zwölf neue Avot bekämen, würde es Ärger geben. Dreißig Jahre
zuvor, als Orolo aufgenommen worden war, hatten sie vierzehn rekrutiert, und davon sprachen die Leute noch heute.
Eines Nachmittags begann die Glockenläutemannschaft gleich nach der Provene mit einem Wechselläuten. Zunächst nahm ich an, es sei schon wieder Elikt. Bis dahin waren nämlich fünf den Edhariern, drei dem Neuen Zirkel und einer den Reformierten Alten Faaniern beigetreten. Irgendwo tief in meinem Inneren beschlich mich das Gefühl, dass ich diese Wechsel noch nicht gehört hatte.
Wieder setzte ich meinen Stift ab – wobei ich wünschte, man hätte mir diese Buße in einer weniger interessanten Zeit auferlegt – und saß da, wo ich die Seile beobachten konnte. Innerhalb weniger Minuten war ich ganz sicher, dass es sich hier nicht um die Elikt handelte. Meine Brust zog sich für einen Moment zusammen, denn ich fürchtete, es könnte Anathem sein. Es war jedoch schon vorbei, ehe ich mir einen Reim darauf machen konnte. So saß ich eine halbe Stunde lang reglos da und lauschte, wie die Langhäuser sich füllten. Es war eine Menschenmenge – sämtliche Avot in sämtlichen Mathen hatten ihre jeweiligen Beschäftigungen unterbrochen und waren hergekommen. Sie redeten alle. Sie klangen erregt. Ich konnte kein einziges Wort verstehen. An ihrem Ton konnte ich jedoch spüren, dass ein bedeutsames Ereignis bevorstand. Meinen Befürchtungen zum Trotz kam ich allmählich zu der Überzeugung, dass es nicht Anathem sein konnte. Die Leute würden nicht so viel reden, wenn sie sich versammelt hätten, um zu sehen, wie einer von ihnen verstoßen würde.
Die Zeremonie begann. Es gab keine Musik. Ich nahm wahr, wie der Primas vertraute Sätze in Altorth sprach: eine offizielle Einberufung des Konzents. Dann ging er zu Neuorth über und las irgendeine Formel vor, die von ihrer Art her um die Zeit der Rekonstitution geschrieben worden sein musste. Am Ende rief er deutlich hörbar aus: »Voko Fraa Paphlagon aus dem Zentenarierkapitel des Ordens Saunt Edhar.«
Das war also der Aut des Voko. Es war erst der dritte, den ich je gehört hatte. Die ersten beiden hatten stattgefunden, als ich ungefähr zehn Jahre alt gewesen war.
Während ich mir das klarmachte, drang vom Boden des Chorraums erst ein Laut des Erstaunens und dann ein tiefes Seufzen herauf: das Erstaunen, schätzte ich, von der Mehrzahl der Avot und
das Seufzen von den Hundertern, die für immer ihren Bruder verloren.
Und jetzt tat ich etwas Verrücktes, aber ich wusste, dass ich ungestraft davonkommen konnte: Ich trat über die Schwelle meiner Zelle. Ich überquerte den Laufgang und schaute über das Geländer.
Im Chorraum befanden sich nur drei Leute: Statho in seinem violetten Gewand und Varax und Onali, die an ihren Hüten zu erkennen waren. Der hinter den Schirmen verborgene Rest war in einem Aufruhr, der den Aut unterbrochen hatte.
Eigentlich hatte ich nur schnell über das Geländer spähen wollen, um zu sehen, was da vor sich ging. Aber ich war nicht vom Blitz getroffen worden. Keine Alarmvorrichtung war losgegangen. Hier oben war niemand . Sie konnten ja auch gar nicht hier sein, ging mir auf, denn es war zum Voko geläutet worden, und dazu mussten sich alle im Mynster versammeln – mussten , weil man im Voraus nicht wissen konnte, wessen Name gerufen werden würde.
Und wenn ich es mir recht überlegte, sollte ich vermutlich da unten sein! Voko war sicher eine der wenigen Ausnahmen von der Regel, die besagte, dass jemand wie ich in seiner Zelle zu bleiben hatte.
Warum war dann aber niemand vom Personal der
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