Anathem: Roman
bedingt war, was die benachbarten Seile bei den vorherigen Schlägen gemacht hatten. Nach ein oder zwei Minuten konnte ich ohne fremde Hilfe erkennen, dass es der Aufruf zur Elikt war. Einer aus meiner Schar war im Begriff, einem Orden beizutreten.
Nach dem Wechselläuten verging eine halbe Stunde, ehe der Aut begann, und dann noch eine mit Chor- und Sprechgesang, bevor ich Statho den Namen Jesry intonieren hörte. Darauf folgte der Lobgesang der Embrase. Der Gesang war kraftvoll, aber ihm fehlte
der letzte Schliff – daher wusste ich, dass es die Edharier waren, die ihn einweihten. Während der ganzen Zeit fiel es mir schwer, mich auf das Buch zu konzentrieren, und auch danach schaffte ich bis zum Ende der Provene kaum etwas.
Am nächsten Tag ertönte wieder dieses Wechselläuten. Zwei weitere Avot schlossen sich den Edhariern an und eine – Ala – dem Neuen Zirkel. Das war keine Überraschung. Wir hatten immer damit gerechnet, dass sie einmal als Hierarchin enden würde. Dennoch hielt mich das aus irgendeinem Grund bis tief in die Nacht wach. Es war, als wäre Ala zu einem anderen Konzent davongeflogen, wo wir sie nie mehr wiedersehen, nie mehr mit ihr in Streit geraten und nie mehr mit ihr darin wetteifern würden, wer ein theorisches Problem als Erster lösen konnte. Was lächerlich war, da sie ja hier in Edhar bleiben und ich jeden Tag mit ihr im Refektorium essen würde. Doch ein Teil meines Gehirns bestand darauf, Alas Entscheidung als persönlichen Verlust für mich zu betrachten, und bestrafte mich damit, dass er mich wach hielt.
In der Art, wie ich das Wechselläuten zur Elikt enträtselt hatte, verbarg sich eine kleine Lektion. Als ich nämlich meinen Bericht über die vergangenen Wochen weiterschrieb – schon die ganze Zeit hatte das Gefühl an mir genagt, etwas zu übersehen -, gelangte ich schließlich zu meinem Gespräch mit Fraa Orolo auf dem Sternrund und seine in gedämpftem Ton geführte Auseinandersetzung mit Trestanas gleich danach unten am Fallgatter. Während ich das schrieb, schaute ich aus meinem Fenster hinaus genau auf diesen Ort, und mir fiel auf, dass das Fallgatter – selbst jetzt am helllichten Tag – geschlossen war. Ich konnte auch das Fallgatter der Zentenarier sehen. Es war ebenfalls geschlossen. Beide waren schon die ganze Zeit, seit ich hier war, geschlossen. Mit jedem Tag, der verging, wuchs meine Gewissheit, dass das Sternrund insgesamt abgeriegelt worden war, und zwar genau in dem Moment, als der Schlüsselmeister am achten Tag der Apert das Gatter hinter mir und Orolo zugeschlagen hatte. Um diese Schließung des Sternrunds – mit ziemlicher Sicherheit ohne Beispiel in der gesamten Geschichte des Konzents von Saunt Edhar – musste es in dem ungehaltenen Gespräch zwischen Orolo und Trestanas gegangen sein.
War es zu weit hergeholt, wenn man vermutete, dass die Ankunft der Inquisitoren zwei Tage später kein Zufall gewesen war? Unser Sternrund ging zum selben Himmel hinaus wie alle anderen auf der
Welt. Wenn unseres geschlossen worden war – wenn es da draußen etwas gab, was wir nicht sehen sollten -, mussten die anderen auch geschlossen worden sein. Am achten Tag der Apert musste der Befehl über das Retikulum ausgegangen und von den Ita zu Suur Trestanas gebracht worden sein; im selben Moment, schätzte ich, hatten Varax und Onali sich auf den Weg zu der »entlegenen Einsiedelei« Saunt Edhar gemacht.
Was alles irgendeinen Sinn ergab, mir aber bei der Beantwortung der verwirrendsten und wichtigsten Frage keinerlei Hilfe war: Warum sollten sie das Sternrund schließen wollen? Es war der letzte Teil des Konzents, von dem man je annehmen würde, dass die Hierarchen sich damit befassten. Ihre Pflicht bestand darin, die Regel zu bewahren, indem sie das Einsickern von Information aus der säkularen Welt in das Bewusstsein der Avot verhinderten. Die Information, die durch das Sternrund hereinkam, war von Natur aus zeitlos. Vieles davon war Billionen von Jahren alt. Was als gegenwärtiges Ereignis durchging, konnte ein Staubsturm auf einem Gesteinsplaneten oder eine Wirbelbewegung auf einem Gasriesen sein. Was konnte bloß vom Sternrund aus zu sehen sein, was als säkular gelten würde?
Wie ein Fraa, der Stunden vor Sonnenaufgang mit Rauchgeruch in der Nase in seiner Zelle erwacht und sofort weiß, dass ein langsam brennendes Feuer stundenlang geschwelt und an Hitze zugenommen hat, während er im Tiefschlaf lag, empfand ich nicht nur Unruhe, sondern auch Scham
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