Anathem: Roman
Regelwartin gekommen, um mich hinunterzuscheuchen? Vermutlich hatte es sich um ein Versehen gehandelt. Dafür gab es keine Vorschriften. Wenn sie so waren wie ich, hatten sie die Wechsel nicht einmal erkannt. Sie hatten erst gemerkt, dass es Voko war, als er schon begonnen hatte – und dann war es zu spät gewesen, um noch heraufzukommen und mich zu holen. Jetzt hingen sie da unten fest, bis er vorbei war.
Jetzt hingen sie da unten fest, bis er vorbei war .
Ich konnte mich frei bewegen, jedenfalls für eine Weile, solange ich nur wieder in meiner Zelle war, wenn die Regelwartin und ihre Leute hier herauftrotteten. Danach würde ich so oder so Schwierigkeiten bekommen, weil ich den Voko ignoriert hatte! Warum dann nicht gleich für etwas in Schwierigkeiten geraten, worüber die Leute im Refektorium noch in fünfzig Jahren sprechen würden?
Das ganze Krafttraining, das ich absolviert hatte, würde sich jetzt bezahlt machen. Ich stürmte um den Laufgang herum, rannte, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf durch den Wehrwarthof und gelangte so in den unteren Bereich des Chronochasmus. Hier musste ich mich vorsichtiger bewegen, um auf den
Metallstufen nicht zu klappern und zu dröhnen. Andererseits hatte ich eine gute Sicht nach unten, sodass ich verfolgen konnte, was vor sich ging. Soweit ich sehen konnte, hatte sich nichts verändert, aber ein neuer Klang stieg den Schacht empor: die Trauer- und Abschiedshymne, von den Hundertern an ihren scheidenden Bruder gerichtet. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie tatsächlich erklingen konnte. Da niemand sie auswendig beherrschte, hatten sie nach selten benutzten Gesangbüchern stöbern und sie auf der Suche nach dem richtigen Stück durchblättern müssen. Dann brauchten sie einen Moment, um damit umgehen zu lernen, denn es war eine fünfteilige Harmonie. Bis die Hymne wirklich zusammenzuklingen begann, war ich schon auf halbem Weg zum Sternrund – hinter den Ziffernblättern der Uhr kletterte ich aufwärts, versuchte, konzentriert zu bleiben, mich zu bewegen, wie Lio es tun würde, und darauf zu achten, dass meine Kulle nicht zwischen Zahnrädern hängen blieb. Der Trauer- und Abschiedsgesang war wirklich haarsträubend – irgendwie noch emotionaler als das, was wir bei Beerdigungen sangen. Natürlich hatte ich nicht die blasseste Ahnung, wer Fraa Paphlagon war, was für ein Mensch er war, was er mochte und womit er sich beschäftigte. Diejenigen, die sangen, wussten es aber, und ein Teil der Kraft dieser Musik bestand darin, dass sie mich fühlen ließ, was sie fühlten.
Und angesichts der Tatsache, dass Fraa Paphlagon und ich uns beide allein auf den Weg in unbekanntes Territorium begaben, fühlte ich vielleicht ein bisschen von dem, was er fühlte.
Die Hauptebene des Sternrunds war jetzt genau über meinem Kopf – ich war an der inneren Rundung des Gewölbes heraufgekommen, das die Spitze des Praesidiums überspannte und alles trug, was oben auf ihm ruhte. Ein paar Wellen durchdrangen das Mauerwerk, um die polaren Antriebe mit Energie zu versorgen. Um eine von ihnen wand sich spiralförmig eine Treppe. Die rannte ich hoch und legte meine Hand auf eine Türklinke. Bevor ich sie herunterdrückte, schaute ich nach unten, um den Fortgang des Aut zu prüfen. Die Tür durch den Schirm der Zentenarier war geöffnet worden. Fraa Paphlagon trat hinaus in die Mitte und stand allein da. Hinter ihm schloss sich die Tür wieder.
Im selben Augenblick öffnete ich die Tür zum Sternrund. Tageslicht strömte hindurch. Ich zuckte zusammen. Wie konnte das nur unbemerkt bleiben?
Nur die Ruhe, sagte ich mir, in dem Schacht sind nur vier Leute, die das hier sehen können. Und aller Augen liegen auf Fraa Paphlagon.
Bei einem weiteren Blick nach unten entdeckte ich einen Fehler in dieser Logik. Aller Augen lagen auf Fraa Paphlagon – außer Fraa Paphlagons ! Er hatte diesen Moment gewählt, um den Kopf in den Nacken zu legen und geradewegs nach oben zu schauen. Warum auch nicht? Es war das letzte Mal, dass er diesen Ort sehen würde. Ich an seiner Stelle hätte dasselbe getan.
Auf diese Entfernung konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Bestimmt hatte er aber das Licht durch die geöffnete Tür strömen sehen.
Einen Moment lang stand er wie versteinert da, dachte nach und senkte dann langsam den Blick auf Statho. »Ich, Fraa Paphlagon, folge deinem Ruf«, sagte er – der erste Satz in einer Litanei, die noch ein oder zwei Minuten lang weitergehen
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