Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
würde.
    Ich schlüpfte ins Sternrund und schloss leise die Tür hinter mir.
    Ich hatte erwartet, alles von Staub überzogen und mit Vogelkot befleckt vorzufinden – normalerweise verbrachten Orolos Fids nämlich außerordentlich viel Zeit damit, hier oben alles sauber zu halten. Aber so schlimm war es gar nicht. Jemand musste heraufgekommen sein und sich darum gekümmert haben.
    Ich ging zu dem fensterlosen Blockhaus, das als Labor diente, trat durch seine lichtundurchlässigen Dreifachtüren und holte eine photomnemonische Tafel, gelöscht und in einen Schutzumschlag gehüllt.
    Was für ein Bild sollte ich darauf aufnehmen? Ich hatte keinen Schimmer, was es war, was die Hierarchen uns nicht sehen lassen wollten, und wusste deshalb auch nicht, wohin ich ein Teleskop richten sollte.
    Genau genommen hatte ich sogar eine ziemlich gute Vorstellung, was es sein musste: ein großer Asteroid, der in unsere Richtung unterwegs war. Das war das Einzige, was ich mir als Grund für die Schließung des Sternrunds vorstellen konnte. Aber das half mir nicht weiter. Ein Bild von einem solchen Felsbrocken konnte ich nur machen, wenn ich Mithra und Mylax direkt auf ihn richtete, was wiederum nur dann möglich war, wenn ich mit einem hohen Grad an Genauigkeit seine orbitalen Elemente kannte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass das Ausrichten des großen Teleskops
unter diesen Umständen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.
    Es gab jedoch ein anderes Instrument, das nicht ausgerichtet werden musste, weil es unbeweglich war: das Auge der Clesthyra. Kaum war mir diese Idee gekommen, lief ich auch schon auf das Pinakel zu.
    Während ich die Wendeltreppe hochstieg, hatte ich viel Zeit, all die Gründe zu überdenken, warum das hier wahrscheinlich nicht funktionieren würde. Das Auge der Clesthyra konnte zwar das halbe Universum, von Horizont zu Horizont, sehen. Dabei erschienen die Fixsterne aufgrund der Rotation von Arbre um seine eigene Achse als ringförmige Striche, Objekte, die sich mit hoher Geschwindigkeit bewegten, als gerade Lichtbahnen. Die Spur selbst eines großen Asteroiden dagegen wäre ausgesprochen schwach und nicht sehr lang.
    Bis ich oben auf dem Pinakel angekommen war, hatte ich mir diese Spitzfindigkeiten aus dem Kopf geschlagen. Das war das einzige Werkzeug, das ich hatte. Ich musste einen Versuch wagen. Später würde ich die Ergebnisse durchgehen und schauen, was ich gebrauchen konnte.
    Unter dem Fischaugenobjektiv befand sich ein eingemeißelter Schlitz, der genau die Abmessungen der Tafel in meiner Hand besaß. Ich brach das Siegel an dem Schutzumschlag auf, griff hinein und ließ meine Handfläche unter den lichtundurchlässigen Boden der Tafel gleiten. Dann zog ich die Schutzhülle ab. Der Wind riss sie mir aus der Hand und schleuderte sie gegen die Mauer, knapp außer Reichweite. Die Tafel war eine nichtssagende Scheibe, wie die Glasplatte, die man zum Schleifen eines Teleskopspiegels benutzt, nur dunkler – als wäre sie in Obsidian gegossen. Als ich ihre Speicherfunktion aktivierte, nahm ihre unterste Schicht die Farbe der Sonne an, denn das war die Quelle allen Lichts, das jetzt auf die Oberfläche der Tafel traf. Da die Tafel sich ohne Objektive oder Spiegel zum Ordnen des einfallenden Lichts im Freien befand, konnte sie von dem, was sie sah, kein Bild herstellen – nicht von der trostlosen Wintersonne, die über den südlichen Himmel zog, nicht von den eisigen Wolken hoch im Norden und nicht von meinem Gesicht.
    Doch das würde sich bald ändern, und so zog ich, bevor ich irgendetwas anderes tat, die Kulle über meinen Kopf und formte sie
zu einem langen, dunklen Tunnel. Falls diese Vorsichtsmaßnahme sich wirklich als notwendig erwiese – das heißt, falls diese Tafel je zur Regelwartin gelangte -, würde man mir vermutlich ohnehin auf die Schliche kommen. Da ich aber nun schon etwas Heimliches im Schilde führte, verspürte ich eine gewisse Verpflichtung, es richtig zu machen.
    Ich steckte die Tafel in den Schlitz unter dem Auge und schob sie ganz hinein, dann machte ich die Staubabdeckung dahinter zu. Sie würde jetzt alles aufnehmen, was das Auge sah – angefangen bei einem verzerrten Bild meiner von einer Kulle bedeckten Rückseite, die aus dem Sichtfeld eilte -, bis sie voll war, was bei ihren augenblicklichen Einstellungen mehrere Monate dauern würde.
    Dann würde ich wieder hier heraufkommen und sie herausnehmen müssen – ein kleines Problem, über das ich noch nicht

Weitere Kostenlose Bücher