Anathem: Roman
dazu zu beantworten; dem lag eine innere Logik zugrunde, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Solche Dinge tauchten von Zeit zu Zeit auf
natürliche Weise in der mathischen Welt auf – schließlich verfügte nicht jeder über das nötige Rüstzeug für einen Saunt. Nachdem ihre Autoren gedemütigt und verstoßen worden waren, wurden diese Schriften von der Inquisition überarbeitet und, falls man sie für schrecklich genug befand, noch stärker in diese Richtung gebracht und in spätere, gemeinere Ausgaben des Buchs eingefügt. Um die Strafe abzuschließen und die Erlaubnis zum Verlassen der Zelle zu erhalten, musste man sie so gründlich beherrschen wie zum Beispiel ein Student der Quantenmechanik die Gruppentheorie kennen muss. Die Bestrafung bestand in dem Wissen, dass man diese ganze Mühe darauf verwendete, sein Gehirn bis an die Wurzeln von einer Art intellektuellem Gift durchtränken zu lassen. Das war demütigender, als man sich vorstellen kann, und nachdem ich mich ein paar Wochen mit Kapitel fünf abgemüht hatte, fiel es mir nicht weiter schwer zu sehen, dass jemand, der eine Strafe von beispielsweise Kapitel neun verbüßt hatte, auf Dauer geschädigt daraus hervorgehen musste.
Genug über das Buch. Eine interessantere Frage: Warum war ich hier? Wie es schien, wollte Suur Trestanas mich von der Gemeinschaft fernhalten, solange die Inquisitoren bei uns waren. Für Kapitel drei hätte ich nicht lange genug gebraucht. Vier hätte es vielleicht getan, aber für den Fall, dass ich zufällig zu den Leuten gehörte, die sich gut Zahlen merken konnten, hatte sie mir fünf gegeben.
Der Dämmerungsaut – der nur von ein paar vereinzelten Avot mit einer besonderen Vorliebe für Zeremonien besucht wurde – weckte mich jeden Morgen. Ich schnappte mir meine Kulle von der hölzernen Pritsche, die das gesamte Mobiliar der Zelle darstellte, und wickelte sie um mich. Dann pisste ich in ein Loch im Fußboden und wusch mich in einem Steinbecken mit kaltem Wasser, aß mein Brot und trank meine Milch, stellte das leere Geschirr an die Tür, setzte mich auf den Boden und legte mir auf der Pritschenoberfläche das Buch, einen Stift, ein Tintenfässchen und ein paar Blätter zurecht. Meine Sphär diente mir als Stütze für den rechten Ellbogen. Nachdem ich drei Stunden lang gearbeitet hatte, beschäftigte ich mich, um einen klaren Kopf zu bekommen, bis zur Provene mit etwas anderem. Und während der ganzen Zeit, in der Lio, Jesry und Arsibalt die Uhr aufzogen, machte ich Liegestützen, Kniebeugen und Ausfallschritte. Wegen meiner Abwesenheit arbeitete mein
Team schwerer und wurde kräftiger, und ich wollte nicht schwach sein, wenn ich wieder hinauskam.
Meine Mannschaftskameraden mussten irgendwie herausgefunden haben, in welcher Zelle ich mich befand, denn nach der Provene picknickten sie auf der Wiese direkt unter meinem Fenster. Sie wagten nicht, zu mir hochzuschauen oder mir zuzuwinken – wahrscheinlich starrte Trestanas wütend auf sie hinab und wartete nur auf einen solchen Fehler -, aber sie begannen jedes Mittagessen, indem sie Bierkrüge hoben und nach einem Trinkspruch auf irgendjemanden in tiefen Zügen leerten. Die Botschaft verstand ich.
Mir standen Unmengen von Tinte und Blättern zur Verfügung, und so fing ich an, den hier vorliegenden Bericht niederzuschreiben. Während ich das tat, drängte sich mir die Vorstellung auf, dass die Ereignisse der letzten paar Wochen von einem Muster durchzogen waren, das ich nicht bemerkt hatte. Das führte ich auf den veränderten Gemütszustand zurück, der einen in Einzelhaft überkam, wenn man nur das Buch als Gesellschaft hatte.
Eines Tages, ungefähr zwei Wochen nach Beginn meiner Buße, wurde meine Morgenschicht durch merkwürdige Glocken unterbrochen. Durch meine Tür konnte ich ein Stück von den Glockenseilen sehen, die vom Balkon der Glockenläuterinnen nach oben zum Glockenspiel führten. Ich ging auf die andere Seite der Pritsche und stellte mich mit dem Rücken zum Fenster, sodass ich das Ruckeln und Zurückspringen dieser Seile sehen konnte. Eigentlich sollten alle Avot in der Lage sein, die Wechsel zu entziffern. Darin war ich nie besonders gut gewesen. Die Töne verschmolzen in meinen Ohren, und ich konnte sie nicht in eine Struktur bringen. Die Bewegungen der Seile zu beobachten, machte es mir jedoch irgendwie leichter; meine Augen eigneten sich für solche Aufgaben besser als meine Ohren. Ich konnte sehen, inwiefern die Bewegung eines Seils durch das
Weitere Kostenlose Bücher