Anathem: Roman
am Morgen nach der Zehnten Nacht die Sonne aufging, die Apertabschlusszeremonie hören. Und beim Blick durch meine Zellentür sehen, wie die Ketten sich bewegten, als die Wasserventile betätigt wurden. Wenn ich dann quer durch meine Zelle ging und aus dem Fenster hinausschaute, konnte ich einen silbernen Wasserfaden den Aquädukt zum Jahrzehnttor passieren sehen und beobachten, wie das Tor sich knirschend schloss. Extramuros wohnten dem nur hier und da ein paar Zuschauer bei. Eine Zeitlang folterte ich mich mit der Vorstellung, dass Cord verloren dastand und darauf wartete, dass ich im letzten Moment herausgerannt kam und sie zum Abschied umarmte. Solche Gedanken verblassten jedoch rasch, als die Tore erst einmal geschlossen waren. Ich sah zu, wie die Avot den Baldachin abbauten und die Tische zusammenklappten. Ich aß das Stück Brot und trank die Schüssel Milch leer, die einer von Suur Trestanas Lakaien an meiner Tür abgestellt hatte.
Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Buch zu.
Da der einzige Zweck dieses Buches darin bestand, seine Leser zu bestrafen, sagt man am besten so wenig wie möglich darüber. Es zu studieren, abzuschreiben und sich einzuprägen war eine außergewöhnliche Form der Buße.
Im Konzent gab es wie in jeder anderen menschlichen Ansiedlung Unmengen unangenehmer oder langweiliger Pflichten wie Unkraut jäten, Abflussrohre freihalten, Kartoffeln schälen und Tiere schlachten. In einer vollkommenen Gesellschaft hätte man sich abgewechselt. Wie die Dinge lagen, gab es Vorschriften und Verhaltensregeln, die die Leute von Zeit zu Zeit brachen, und die Regelwartin sorgte dafür, dass diese Leute die unangenehmsten Aufgaben verrichteten. Das war kein schlechtes System. Wenn man eine verstopfte Latrine sauber machte, weil man im Refektorium zu viel getrunken hatte, hatte man vielleicht keinen sonderlich unterhaltsamen Tag, aber die Sache lag nun mal so, dass Latrinen notwendig waren; manchmal verstopften sie, und irgendein Fraa oder eine Suur musste sie gründlich sauber machen, da wir ja nicht gut einen Klempner von außerhalb rufen konnten. So lag in der Verrichtung
dieser Buße wenigstens eine gewisse Befriedigung, da die Arbeit einen Zweck erfüllte.
Das Buch erfüllte keinerlei Zweck, was es zu einer besonders gefürchteten Art der Buße machte. Es enthielt zwölf Kapitel. Wie die Skala zur Messung von Beben wurden diese mit steigender Zahl exponentiell schlimmer; so war Kapitel sechs zehn Mal so schlimm wie Kapitel fünf und so weiter. Kapitel eins war nur ein Vorgeschmack, eine Strafe für pflichtvergessene Kinder, die normalerweise in ein oder zwei Stunden erledigt war. Zwei bedeutete mindestens einen Aufenthalt über Nacht, wobei ein Unruhestifter, der etwas auf sich hielt, es auch in einem Tag herunterreißen konnte. Fünf bedeutete typischerweise einen Aufenthalt von mehreren Wochen. Gegen die Verurteilung zu Kapitel sechs oder höher konnte beim Primas und dann bei der Inquisition Einspruch erhoben werden. Kapitel zwölf entsprach einer lebenslänglichen Strafe bei schwerer Arbeit in Einzelhaft; in 3690 Jahren hatten nur drei Avot sie beendet, und sie waren alle schwer geistesgestört.
Ab ungefähr sechs konnte die Strafe Jahre dauern. Viele beschlossen, lieber den Konzent zu verlassen, als sie zu ertragen. Diejenigen, die sie durchstanden, kamen verändert wieder heraus: gefügig und merklich gedrückt. Was vielleicht verrückt klingt, weil es um nichts anderes ging, als die entsprechenden Kapitel abzuschreiben, sich einzuprägen und dann vor einer Hierarchenkommission Fragen darüber zu beantworten. Der Inhalt des Buchs war jedoch über viele Jahrhunderte so geschickt gestaltet und verfeinert worden, dass es absurd, unerträglich und sinnlos war: anfangs offenkundig, in den weiteren Kapiteln eher subtil. Es war ein Labyrinth ohne Ausgang, eine Gleichung, die sich nach wochenlanger Qual auf 2=3 reduzierte. Kapitel eins war eine Seite mit Kinderreimen und eingestreuten Nonsenswörtern, die sich beinahe reimten – aber eben nur beinahe. Kapitel vier bestand aus vier Seiten mit Stellen von pi. Darüber hinaus gab es in dem Buch jedoch keine Zufälligkeit, denn wenn man sich erst einmal ein paar Tricks angeeignet hatte, konnte man sich wirklich zufällige Dinge leicht merken – und diese Tricks kannte jeder, der sich durch Kapitel vier hindurchgearbeitet hatte. Bei Texten, die nahezu, aber nicht vollständig Sinn ergaben, war es viel schwerer, sie sich einzuprägen und Fragen
Weitere Kostenlose Bücher