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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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er im Grunde nie vorhatte zu sterben und ihn der Gedanke an das Ende seiner Existenz tröstete, und er kann diese Besessenheit nicht verstehen, mit der Magnus den Schrank einer Toten durchwühlt, und er möchte sich ihr entziehen, obwohl er es weder schafft, aufzustehen und zur Tür zu gehen noch Magnus zu unterbrechen, und er hofft auf Rettung; die Hoffnung ist klein.
    Als sein Freund zornig gegen den Schrank tritt, greift Ole nach dem Telefon, sucht nach Lars’ Nummer, seine Finger zittern, das Gerät rutscht aus seiner Hand und fällt zu Boden, und auf Magnus schielend, der nun in den Schachteln gräbt, die unter dem Kleiderberg versteckt waren, bückt er sich.
    In diesem Moment knarrt das Bett, Magnus hält inne, Ole hört auf zu atmen. Es rumort wieder hinter der Tür, Ole bückt sich schnell und kann gerade noch die Nummer tippen, als Magnus auftaucht –
    ich sehe unten nach –
    und die Treppe hinunterschleicht, ins Erdgeschoß, in Kuupiks Fisch- und Jagdkammer. Ole wählt die Nummer ein zweites Mal. Lars hebt nicht ab. Schritte auf den Stufen, Magnus nähert sich. Ole wählt ein drittes Mal. Magnus öffnet die Tür, er hält eine Angelschnur in der Hand und eine Schere.
    Das sollte klappen.
    Plötzlich hört Ole, wie von weit, weit her, eine Stimme aus dem Telefon. Schnell schiebt er es unter den Oberschenkel.
    Gut.
    Per setzt sich auf die Erde, er ist erschöpft.
    Sein Magen hat bereits aufgegeben zu knurren, manchmal glaubt er, ein Phantomknurren zu hören, dann fällt ihm ein, dass dies reine Gewohnheit ist: Er ist im Überhören des Hungers trainiert, er würde sogar sagen, seines Hungers, als wäre Hunger ein Besitz, und, ganz spezifisch, seiner. Ihm fällt Laerke ein, die nicht nur alle verlassenen und einsamen Kinder Amarâqs viermal in der Woche einsammelte, um sie bei sich zu Hause zu füttern, sondern auch täglich das Waisenhaus aufsuchte. In der Stadt war sie als die Kinderfrau bekannt, doch Stin nannte sie die Heimsuchung und jagte sie fort, sie aber ließ sich nicht abweisen und kam nach einer Weile wieder, wenn die Luft rein war, klopfte dreimal kurz und zweimal lang, und Per öffnete ihr.
    Sie gab ihm getrockneten Fisch, setzte sich neben ihn und erzählte ihm aus ihrer Kindheit, als sie so wenig zu essen hatten, dass sie sogar ihre Kajaks zerlegten und die Kajakhaut kochten und aßen, vorher ihre Stiefel, die Kamiks, und wenn es nicht anders ging, fraßen sie einander, sagte sie und sah ihn aus diesen schwarzen Augen an, in denen er nichts erkennen konnte, keine Regung, kein Gefühl, und er war sich sicher, sie würde nicht zögern und ihn verzehren, wenn es eine Hungersnot gäbe, und er hörte auf, den getrockneten Fisch zu kauen, spuckte das Stück aus, das er im Mund hatte, legte es auf seine Hand und hielt es ihr hin, und sie lachte, sie krächzte, ihre Augen verwandelten sich, sie wurden dunkelbraun wie die Schokolade, die im Supermarkt in einer gläsernen Vitrine weggesperrt war und an der er ein einziges Mal hatte riechen dürfen, als Stin ihm ein Stück unter die Nase gehalten hatte, nur, um es dann in den eigenen Schlund zu stopfen und zu verschlingen, und Per lachte mit, weil er meinte, dies würde ihr gefallen, und steckte den Fisch wieder in den Mund.
    Sie, die ihn foppen wollte, wartete ab, bis er ein Weilchen gekaut hatte und am Schlucken war, ehe sie erklärte, wie man den Leichnam zerlegt, dass man den Anus herausschneiden müsse, bevor man den Menschen essen dürfe, währenddessen hätten die Augen der Leiche so ausgerichtet zu sein, dass sie das Ausweiden und Zerschneiden des Körpers mitverfolgen könnten, und der Magen müsse wie eine Mütze auf dem Leichenkopf liegen und vorher solle man die Hände im Blut des Toten baden, an dieser Stelle hörte Per auf zu essen, zu atmen, und sie sagte, man dürfe nicht vergessen, den Anus als Erstes zu essen, gut gekocht, er sei die Tür der Seelen, und die Seelen müssen daran gehindert werden, den Körper wieder zu betreten, sie dürfe man nicht essen, unter keinen Umständen. Sie nickte, ihre Augen erloschen, sie waren plötzlich nicht mehr schwarz, sondern grau, und sie stützte sich mit einer Hand ab, beugte sich langsam vor, schüttelte den Kopf, als hätte sich in ihren Haaren Staub oder Dreck angesammelt, und sie sah sich nicht um, als sie durch den Ausgang verschwand.
    Aber eine Woche später stand sie wieder vor der Tür und trat ein, nicht ohne vorher leise geklopft zu haben, und diesmal erzählte sie von der Hungersnot in

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