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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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seine rechte Körperhälfte schlafwandeln und nur die linke wach sein, bekommt sie Mitleid mit ihm, und sie greift nach seiner Hand und führt ihn heimwärts.
    Er braucht Schlaf, denkt sie, er ist müde.

5    Per läuft am Krankenhaus vorbei. Abrupt bleibt er stehen. Die Schule mit dem neuen Hof, dahinter der große Pilersuisoq, der Allesmarkt, und die Sporthalle, die nur zu sehen sind, weil sie jeweils von einer Straßenlaterne beleuchtet werden. Dahinter das Waisenhaus mit dem eingezäunten Spielplatz, mehr ein Käfig, die Gitter reichen bis in den Himmel.
    Er fühlt sich hilflos, als er vor dem Haus seiner Kindheit steht, im Grunde ein Bau und kein Gebäude, ein Koloss, und ihm scheint, dass, wohin er auch geht, alle Wege an diesen Ort zurückführen, an dem er landete, weil ihn sonst niemand aufnehmen wollte. An dem seine Familie lebte, die ihn aber ablehnte, ihn, der kein Mitglied war, sondern ein Gast, der Unannehmlichkeiten bereitete, Forderungen stellte, die unerfüllbar waren, ganz gleich, wie gering sie auch waren, und er erinnert sich, dass er aus dem Fenster immer die Kinder beobachtete, die mit ihren Eltern spielten oder spazieren gingen, und er sich dachte, dass er sich mit einem Bruchteil dessen begnügen würde, und er erinnert sich, dass er glaubte, in Poul den ewigen Spaziergänger gefunden zu haben, einen Bruder und Freund, der immer für ihn da wäre –
    aber auch Poul verließ ihn, noch dazu auf eine Art und Weise, die ein Wiedersehen unmöglich machte.
    Sein Blick bleibt an den Bergen um Amarâq hängen, sie sind das Publikum, die Stadt ist die Bühne und ihre Bewohner sind Schauspieler, tagsüber. Bei Nebel ist das Theater geschlossen und der Vorhang fest zugezogen, und nachts leuchtet einzig das Licht im Olymp, am Gipfeleis, das in einem etwas helleren Schwarz am Himmel schwebt –
    ein Polarlicht der anderen Art.
    Polarlichter, erzählt man sich in Amarâq, sind die Spur der Seelen, die den Körper verlassen haben, auf der Suche nach einem neuen Wirt.
    Per überlegt, bei wem er heute Nacht unterschlüpfen könnte.
    Magnus nimmt so viele Gürtel und Tücher, wie er zusammenraffen kann, und legt sie auf das Bett, während sie Ole nach Längeund Belastbarkeitsortiert.
    Du kannst aufhören. Wir haben genug.
    Auf dem Haufen liegen fünf Tücher und zwei Gürtel. Letztere schiebt Magnus in die Mitte.
    Sie sind sehr hart und alt, sie könnten reißen.
    Es sind die Besitztümer seiner Mutter, ihr Name, die Bezeichnung Mutter , ist für Magnus ein Sinnbild für tiefes, leeres Schweigen. Bis heute weiß er nicht, was ihr zugestoßen ist, warum sie ihn niemals besuchte, ob sie noch lebt oder ob sie starb. Als Kind durchforstete er die Gespräche seiner Verwandtschaft und schrieb die Sätze auf, die über sie gesprochen wurden, damit er sie nicht vergaß. Er schrieb sie in ein kleines quadratisches Heft, das er in ihren Sachen fand, in ihrem Zimmer, das nun seines ist. Es war unbeschrieben, die Seiten waren zum Teil zerknittert, sie musste es bei sich getragen haben, es hatte Eselsohren und auf der Innenseite des Umschlags Kulistriche, als hätte sie ausprobiert, ob der Stift etwas taugte.
    Mit der Zeit wuchs seine Zitate-Sammlung, aber selbst nach mehrmaligem Lesen, das oft in ein Nachbuchstabieren der Sätze mündete, wusste er nicht mehr über ihr Leben als zuvor. Manchmal schien es ihm, als sei sie gleich nach seiner Geburt weggegangen, in die Hauptstadt in den Westen, dann glaubte er herauszulesen, dass sie in Kopenhagen sei, dann wieder sprachen die Großeltern und Janus in einer Vergangenheitsform von ihr, als sei sie schon lange tot –
    die Stille aber, die zwischen den Sätzen stand, schien zu sagen, es habe sie niemals gegeben.
    Nehmen wir diese zwei.
    Magnus nimmt den roten und den blauen Schal. Sie sind, bis auf die Farbe, identisch und aus dünner Baumwolle, er zieht an den Enden, um den Stoff zu prüfen: reißfest.
    Ich denke, die werden halten.
    Mikileraq lässt das Badetuch sinken. Sie steht reglos in der Mitte des Raumes, auf der weißen Badematte, weicht der Reflexion im Spiegel aus und glaubt sich doch gefangen im Glas, so senkt sie den Blick, während die Tropfen, zunächst Tausende, Abertausende von ihrem Rücken, den Haaren, den Schultern, den Brüsten und der Hüfte abperlen, zu Boden fallen; der Rest verdunstet, verschwindet.
    So wie das Wasser auf der Haut langsam an Fläche verliert, lösen sich auch ihre Gedanken auf. Ihr Kopf ist leer, nein, er ist gelähmt, er bewegt

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