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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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es, strauchelt, stürzt, muss sich hinsetzen und nach Luft schnappen, sein Bein schmerzt, der Knöchel, doch er kann es sich nicht leisten, sitzen zu bleiben, also humpelt er weiter, zunächst zaghaft, vorsichtig, bis er wieder anfängt zu laufen, zu rennen.
    Sara liegt auf dem Bett. Obwohl sie die Augen geöffnet hat, meint sie, sie hätte sie geschlossen, wären nicht die Schatten, die mit den Lichtern an den Wänden spielen.
    Sie denkt an ihre Ankunft in Amarâq vor drei Wochen; diese Erinnerung, noch ein bewegliches Bild, wird sich bald in ein unbewegliches verwandeln, und dies wird ein Zeichen dafür sein, dass sie begonnen hat, sich festzusetzen. Ab diesem Moment wird sie blasser werden, lautlos, farblos, schemenhaft, endlich wird es nur noch ein Gefühl von ihr geben, aber auch das wird zerfließen. Schließlich wird Sara zwar wissen, dass sie eine Erinnerung an diesen Ort hatte, an diese Begebenheit, aber es wird bloß dieses Wissen existieren, nichts anderes; es wird im Grunde ausgehöhlt, leer sein, nicht wieder befüllbar, denn es wurde schon einmal benutzt: Gebrauchte Erinnerung ist unberührbar.
    Sara liegt auf dem Bett und spricht mit sich selbst. Sie sagt, meine Erinnerungen haben die Sphäre der Beliebigkeit verlassen, sie sind, auch wenn sie in Vergessenheit geraten, besonders, selbst dann hinterlassen sie Spuren, die mir bewusstmachen, dass mir etwas Wichtiges abhandengekommen ist, und dieser Verlust ist einer, den ich nicht so leicht ertragen kann. Sie sagt, ich versuche mich zu erinnern, beginne in meinem Kopf zu kramen, vielleicht krame ich nicht ausschließlich in ihm, sondern auch darin, was man gemeinhin als Herz bezeichnet: Ich durchwühle meine Gefühle, denn auch sie sind Informationsträger, auch sie enthalten und verraten Erinnerung.
    Sie setzt sich auf.
    Doch nun ist alles ganz anders, sagt sie. Nun versuche ich nicht mehr, sie zu finden und festzuhalten, im Gegenteil, ich lasse alle Erinnerungen frei.
    Sie denkt, sie möchte sie nicht mehr sehen, nie mehr, sie denkt, sie sind belanglos geworden, verraucht , denn Sara selbst ist zerschnitten, das findet sie, wenn sie über sich nachdenkt, in viele Stücke zerteilt, und es stört sie nicht, sie hat sich damit abgefunden, früher verzweifelte sie noch über dem Zusammensetzen der einzelnen Teile, als wäre sie ein Puzzle und erst dann vollständig, wenn alles an seinem Platz lag.
    Seit ihrer Abreise aus Kopenhagen ist diese Verzweiflung einer Ruhe gewichen, die sie zum ersten Mal empfindet, seit sie vor sich selbst floh –
    plötzlich ist Sara zum Lachen zumute, und sie lacht. Im nächsten Moment ertappt sie sich dabei, wie sie an ihren Erinnerungen vorbeischlüpft und zum Abschied winkt.
    Anders, wohin gehst du?
    Idi hält ihn am Arm zurück, doch Anders schüttelt sie ab.
    Dass er seinen Kopf, also den Schädel samt Haaren und Gesicht, in einem Puppenwagen mit Aussichtsplattform vor sich her schieben muss, um zu sehen, wohin er tritt, ob er sich auf dem richtigen Weg befindet oder von ihm abgekommen ist, ist keinesfalls hinderlich für seinen Plan, die Bank auszurauben, die sich in der Post befindet. Er schiebt vorsichtig, schließlich spürt er alle Unebenheiten der Erde, sie drücken gegen den Hals, aber auch gegen die Ohren, wo sie sich in dumpfen Tönen entladen, die in hohe, helle münden, mehr ein Signal als ein Ton, ein nicht enden wollendes Freizeichen, das in der Luft hängt, weil ihm die Nummer entfallen ist.
    Anders wühlt in den Taschen, er wühlt, ohne zu schauen, sein Blick ist zum Himmel gerichtet, zu den Sternen, zum Mond.
    Vielleicht hat er seinen Kopf auch geerntet, dieser Gedanke taucht in ihm auf, er kann sich nicht erklären, woher, aber dass er ihn geerntet haben soll und nun mit sich führt, in diesem Wagen, dem Wagen seiner Schwester ganz offensichtlich, denn sie bekam ihn zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt, eingetauscht gegen ein Paar Schihosen und eine Schijacke, vielleicht hat er seinen Kopf geerntet, vorsichtig von den Wurzeln abgetrennt, diese wollte er nicht verletzen, denn sie sollen auch in Zukunft Köpfe tragen, und dann in den Wagen gebettet, auf die Puppenbettwäsche, als er vorschlug, die Bank auszurauben.
    Wie denn?
    Der Kopf schweigt.
    Was hast du gesagt?
    Idi bleibt stehen. Sie überlegt, ob sie Anders allein lassen und nach Hause gehen soll, er ist eigenartig, denkt sie, vielleicht ist er verrückt, aber wie Anders so dasteht, den Kopf hoch erhoben, einen Arm von sich gestreckt, als würde

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