Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
Vom Netzwerk:
sich nicht, würde sie sagen, weil er nicht kann. Es ist wie in diesen Träumen, man weiß, dass der Verfolger immer näher und näher rückt, aber man kann sich nicht bewegen, und jeden Augenblick wird seine Hand einen zuerst antippen, danach packen, und die Angst vor diesem Moment lässt einen zusätzlich erstarren. Wenn man schließlich zur Besinnung kommt und doch noch einen Versuch wagt, ist es bereits zu spät –
    ein Schuss.
    Der Laut dringt zu ihr durch, doch noch immer kann sie sich nicht bewegen. Sie registriert Stimmen auf der Straße, sie träufeln in ihr Ohr, mit jeder Minute werden es mehr, schließlich ein Stimmenteich, Rufe, Schritte, die sich entfernen und wieder nähern, Mikileraq hört diese Geräuschkulisse, es ist ein einziger Ton, der an- und abschwillt, eigenartige Höhen und Tiefen birgt, eine Sprache, die aus Stimmen und Geräuschen besteht. Ihrer Haustür, die sich öffnet und schließt. Bestürzung. Ungeduld. Und nun erkennt sie ein Wort. Arzt. Und dann ein zweites. Tot. Sie wickelt das Tuch um ihren Körper, als sie bemerkt, dass sie fröstelt; sie geht zum Fenster, löst den Riegel und öffnet es. Erkennt auf der Straße eine Gruppe von Leuten, die sich über etwas oder jemanden beugen, sie mutmaßt, es müsse wohl ein Mensch sein.
    Sie streift sich ihr Nachthemd über und verlässt das Badezimmer.
    Vor dem Pakhuset steht die nächste Gruppe und wartet auf Einlass. Lars sieht sie von weitem, er erkennt sie an den glimmenden Zigaretten in der Dunkelheit, die Punkte, die hin und her wandern. Auf den Stufen vor der Bank und Post findet die Party derjenigen statt, die gar nicht erst versuchen werden, in die Bar eingelassen zu werden, sie haben ihr eigenes Bier mitgebracht und streiten um die letzte Dose, die in der Runde weitergegeben wurde, aber unter geheimnisvollen Umständen, noch bevor sie ausgetrunken werden konnte, verschwand.
    Hej, du!
    Lars dreht sich nicht um, geht weiter.
    Hej! Du bist gemeint!
    Lars spürt, wie jemand ihn am Arm packt und festhält.
    Hast du Bier?
    Er schüttelt den Kopf.
    Hast du welches? Na sag schon!
    Nein.
    Er räuspert sich.
    Nein!
    Hast du Geld?
    Nein.
    Die Gruppe umringt ihn. Es sind auch Jugendliche dabei, die ihn im Heim besuchen, alte Bekannte, aber sie halten sich im Hintergrund, sie haben Angst, denkt Lars. Er hätte auch Angst.
    Dann verschwinde.
    Er macht sich bereit, um den Kreis, in den er eingeschlossen ist, zu durchbrechen, vorsichtig durch die Menschenkette durchzutauchen, als er an der Schulter festgehalten wird.
    Warte.
    Er hat das Bier ausgetrunken.
    Der erste Schlag, weiß Lars aus Erfahrung, schmerzt am meisten, ein Schmerz, der noch Tage, manchmal Wochen nachhallen, in der Erinnerung stärker werden wird. Der zweite ist schlimm, nicht so schlimm wie der erste, aber schlimm genug, auch er wird im Gedächtnis bleiben, dort mit dem ersten verschmelzen, so dass dieser heftiger scheinen wird, als er eigentlich war. An die anderen wird er sich später kaum noch erinnern, weil er zu sehr damit beschäftigt war, sich vor ihnen zu schützen, das Einzige, dessen er sich entsinnen wird, ist, sich gekrümmt, den Rücken gewölbt und mit Händen und Armen die Schläge und Tritte abgewehrt zu haben, die von allen Seiten auf ihn einprasselten.
    Ein Geräusch weckt Sara, sie meint, es könnte ein Schuss gewesen sein.
    Sie geht zum Fenster und sieht hinaus. Sie sieht nichts weiter als das Dunkel, das in Amarâq zwar klarer, aber dichter zu sein scheint als in Kopenhagen und das die Welt um sie herum neu erschafft.
    Sie knipst das Licht an, setzt sich an den Schreibtisch und beobachtet den Sekundenzeiger der Wanduhr. Erst in diesem Moment wird ihr bewusst, dass die Bewegung das Ticken auslöst, sie hat es nie so gesehen: Für sie waren Ticken und Bewegen immer separate Vorgänge, zwei Einheiten, die sich für einen Augenblick finden, getrennt werden, wieder finden und getrennt werden, und im Takt des Findens hatte sie die Choreographie eines wunderschönen Zufalls gesehen, der diese Begegnung ermöglichte, unendlich oft.
    Sie wendet sich von der Uhr ab und ertappt sich dabei, dass sie wartet; sie fragt sich, worauf. Sie steht auf, öffnet die Seitentasche ihres Rucksacks, entnimmt ihr eine Schachtel. Geht ins Badezimmer, lässt kaltes Wasser in den Zahnputzbecher laufen.
    Eine Gruppe Jugendlicher nähert sich Anders und Idi.
    Komm, gehen wir.
    Idi fasst Anders am Arm, zieht ihn mit sich. Er folgt ihr ein paar Schritte, weigert sich dann aber weiterzugehen,

Weitere Kostenlose Bücher