Anatomie Einer Nacht
sie sich mit zwölf Jahren verliebt hatte, zum ersten Mal in ihrem Leben. Fast glaubte sie es ihm nicht, als er ihr seinen Namen verriet, in dieser zugigen Werkstatt, die selbst dringend geflickt werden musste. Sie zählte die Zufälle, die es brauchte, um sie zueinanderzuführen, die Schulen, die abgeschlossen, die Prüfungen, die bestanden, die Studienplätze, die ergattert, die Flüge, die genommen, und die Idee, die geboren werden musste, die Küste am Øresund entlangzufahren, nachdem ihr die dänischen Kolleginnen erklärt hatten, dass sie, eine Grönländerin, niemals imstande sein würde, ein technisches Wunderwerk wie ein Automobil zu beherrschen, sie wäre doch zu sehr ein Kind der Natur! Und wie recht sie gehabt hatten, sie hatte Frau Løvgreens Klapperkiste nicht bändigen können, sie war in die Mauer gesprungen, und in ihrer Verzweiflung hatte sie alles auf dem Beifahrersitz liegenlassen, war aus dem Auto geklettert und um die Ecke gerannt in der Hoffnung, jemand würde ihr helfen, und tatsächlich hatte es dort eine Werkstatt gegeben, an dieser Ecke, eine mit roten Ziegelmauern, die Flügeltüren weit geöffnet, und Jørn in einem blauen Overall, der seine dunklen Augen hinter der Motorhaube versteckt hielt, sie aber, als er ihre Stimme hörte, benutzte, als täte er dies zum ersten Mal.
Hör auf, dir Sorgen zu machen, es geht ihr gut.
Eigentlich, erzählte er ihr später, nachdem er sich endlich getraut hatte, sie zu fragen, ob sie mit ihm einen Kaffee trinken würde, obwohl er keinen Kaffee trank, weil ihm vom Geruch zermahlener Kaffeebohnen übel wurde, hätte er an diesem Tag gar nicht in der Werkstatt sein sollen, denn es war sein freier Tag gewesen, aber seine Katze war am Vortag entlaufen, so dass er ihr nachrennen musste, um sie einzufangen, er verbrachte damit den halben Tag und musste deshalb am Urlaubstag die versäumte Arbeit nachholen. Die Katze sei entkommen, fügte er hinzu, weil eine Taube im Sturzflug gegen sein Fenster geflogen, die Scheibe zunächst gesprungen, danach zerbrochen war, aber bloß in der Mitte, dort war ein großes ovales Loch entstanden.
Er zählte die Zufälle und lachte über sie, so ein Unsinn, aber insgeheim verstärkte es sein Gefühl, dass es fast unmöglich gewesen war, Mikileraq zu finden, und diese Unmöglichkeit, dieses Gerade-Noch schuf einen Moment, in dem er nicht anders konnte, als sich in sie zu verlieben.
Ich weiß. Schlaf weiter.
Mikileraq zieht ihre Kleider aus, legt sie über die Bank am Fuß des Bettes, leise öffnet sie die Badezimmertür, die Zehenspitzen berühren die kalten Fliesen und ihr ganzer Körper zuckt, zieht sich noch mehr zusammen als bisher, sie denkt, sie sei ausgetrocknet, wie eigenartig, und noch während sie sich wäscht, sich einseift und die Seife im Duschstrahl abspült, die Nacht abwäscht, fühlt sie sich keineswegs verschmutzt, sondern verdorrt.
Lars rennt, zwischendurch bleibt er stehen, weil ihm die Luft ausgeht, dann sagt er sich, dass nicht eintreten wird, was er befürchtet, dass sie in fünfzehn Minuten darüber lachen werden –
dass seine Fantasie mit ihm durchgegangen ist. Als er sich auf diese Art beruhigt hat, geht er weiter und spürt, wie es in seiner Seite sticht. Er ist kein Sportler, schon als Kind zog er es vor, bei den Fußballspielen gegen Ittuk und die anderen Siedlungen im Zuschauerbereich auf der Regenjacke zu sitzen und zuzusehen, wie die Spielerinnen und Spieler bedächtig über das Fußballfeld stapften, als hingen Gewichte an ihren Fesseln: Ein Sturz auf dem Steinfeld war schmerzhaft.
Sobald es ihm gelungen ist, zu Atem zu kommen, und er die Straße wieder vor sich sieht, die Straßenlaternen, die Amarâq ausschnittsweise beleuchten, als wäre die Stadt ein Museum, beginnt sich wieder Angst in ihm zu regen und zu wachsen. Sie steigt bis in die Kehle und schnürt seinen Hals zu, und er glaubt, nicht mehr atmen zu können, so beginnt er zu traben, zu laufen, schließlich zu rennen –
ein hastiges Rennen, mehr ein Stolpern, das ihn kaum vorwärtsbringt, weil sich seine Beine verhaspeln und er sich ständig mitten in der Bewegung auffangen muss, um nicht zu fallen, und es frustriert ihn, dass sein Körper nicht so tut, wie er möchte, nicht heute Nacht, im Grunde nie, und die Furcht überflutet seine Gedanken, weicht sie vollkommen auf, und er rennt, so schnell er kann, er benutzt die Arme, um Schwung zu holen, vielleicht, denkt er, läuft es sich auf diese Art leichter, aber er übertreibt
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